AUFBRUCH IN EINE NEUE WELT

(Predigtgedanken zum 13. So. i. Jkr. / 5. So. n. Trinitatis – Mk 5,21-43; Weish. 1.13-24; 2.Kor 8,7-15)

In Wundergeschichten wird Unmögliches möglich. Sie zeigen und führen uns in eine andere Welt. Wunder geschehen, wo Menschen dem Leben trauen und einander liebend begegnen.

SICH WUNDERN KÖNNEN

Ich liebe Wundergeschichten. Eigentlich. Sie kommen aus einer anderen Welt. Naturgesetze gelten nicht, der Lauf der Dinge läuft nicht, es gibt auch keine Angst mehr. Alles ist so einfach. In der Regel genügt ein Wort. Vielleicht kommt noch ein kleines Zeichen dazu. Mehr muss nicht sein. Aber dann ist die Welt wieder in Ordnung. Eine Krankheit ist geheilt. Und als Krönung muss sogar der Tod seine Beute wieder hergeben. Das lässt sich auch nur in Wundergeschichten erzählen. Von Jesus werden solche Wundergeschichten erzählt. Wie heute. – Aber sieht so das Glück aus?


Zu Beginn meiner geistlichen Laufbahn war ich überwiegend in der Krankenhausseelsorge tätig.     Es war eine ereignisreiche Zeit. 18 Monate. Viele Kinder wurden gesund. Auch ihre Krankheiten haben sie oft mit einer großen Leichtigkeit getragen. Auf der Station wurde viel gelacht. Aber die Zeit war nicht ungetrübt. Ich habe Kinder auch sterben sehen. Einmal kam ein Junge, 14 Jahre, verabschiedete sich und sagte, er würde die Medikamente nicht mehr nehmen. Es hätte keinen Sinn mehr. Er hatte Leukämie im Endstadium. Eine Woche später war er tot. Seinen Namen habe ich vergessen. Aber ich sehe ihn immer noch vor mir. Er hatte mit seinem Leben und seinem Sterben Frieden geschlossen.

Das kleine Mädchen, dessen Namen wir nicht kennen, war auch todkrank. Der Vater sucht Hilfe bei Jesus. Er ist der Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Jaïrus heißt er. Der Leuchtende, Strahlende, Licht Verbreitende. Nun passt aber der Name nicht zu ihm. Dunkle Schatten liegen über seinem Leben, über seinem Gesicht. Wir wissen auch, wie die Geschichte weitergeht. Wir hören die Totenklage, das Weinen, das Schluchzen. 12 Jahre ist das Mädchen alt geworden. Mit ihrem Lebensalter stand sie an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Zukunft hat sie aber nicht. Jetzt nicht mehr.

GLAUBEN ENTDECKEN

Markus, der die Geschichte erzählt, hat einen Spannungsbogen geschaffen. Jesus wird aufgehalten. Es ist von einer Menschenmenge die Rede. Es gibt kein Durchkommen mehr, auch kein Entkommen. Zwischendrin hören wir die Geschichte von einer Frau, die seit 12 Jahren blutet, verblutet. Sie hat nur noch eine Chance. Die ergreift sie. Von der Berührung mit Jesus erhofft sie Heilung. Und der merkt das. Von ihm geht Kraft ab, ihr wächst die Kraft zu. Es ist, als ob ein Kreislauf geschlossen würde. Leben wird auf diese Weise geteilt. Abgegeben, in Empfang genommen. Dass in wenigen Worten auch Nähe beschrieben wird, die sich nicht nur der Menge verdankt, hat eigene wundervolle Seiten. Die Frau, die als „blutflüssig“ gilt und mit diesem Wort auch gebrandmarkt wird – also ständig unrein ist, ist mit Jesus eng verbunden. Ohne Absprache. Ohne Erlaubnis. Einfach so. Die Menge darf einmal dafür herhalten, einen Raum von Geborgenheit zu gewähren. Jesus sagt auch nur: Meine Tochter! Dein Glaube hat dir geholfen.
Jetzt ist es heraus: Es ist der Glaube, der Wunder schafft.

Viel zu spät kommt Jesus dann zu dem Synagogenvorsteher Jaïrus. Von weitem ist zu hören, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Das Mädchen ist gestorben. Die Leute klagen laut. Ein riesiges Gejammere. Die Dämonen sollen verscheucht werden, bevor sie sich an der Seele des Kindes vergreifen. Ein archaischer Ritus. Es gibt ihn bis heute. Der Tod ist laut. So laut, dass Jesus nicht gehört, schon gar nicht verstanden wird. Das Mädchen soll nicht tot sein? Und ob – hier ist nichts mehr zu machen. Eigentlich muss Jesus nicht einmal mehr das Haus betreten. Und wenn, nur als Trauernder.

Talita kum. Mädchen, ist sage dir: steh auf! Sagt Jesus. Das Mädchen steht auf. Und die Leute entsetzen sich. Die Welt stimmt nicht mehr. Alles, was Menschen wissen, gerät aus den Fugen. Wo nur noch Vergangenheit war, ist auf einmal Zukunft. Das Mädchen tritt in ihr Leben.

Wie die junge Frau ihre Geschichte später erzählt hat, ihren Kindern, ihren Enkeln, wissen wir leider nicht. Auch nicht, wie alt sie geworden ist. Ihr Grab gibt es längst nicht mehr. Ewigkeit ist etwas anderes. Aber Jaïrus ist mit seinem Glauben nicht ins Leere gelaufen.

DAS ALTE BLEIBT NICHT ALT

Ich liebe Wundergeschichten. Immer noch. Sie provozieren. Was sich selbstverständlich gibt und eingespielt, stößt an Grenzen und verliert den Nimbus, unfehlbar zu sein. Symptome und Diagnosen stimmen auf einmal nicht mehr, fachmännische Urteile werden unsicher, Erfahrungen bekommen einen neuen Namen.

Die Frau, die sogenannte „blutflüssige“, hätte auch noch länger mit ihrer Krankheit leben können. Nach 12 Jahren ist alles eingespielt, vertraut und gefühlt geordnet. Aber die Erfahrung, unrein zu sein, den Tempel nicht betreten zu dürfen, von Menschen geächtet und gemieden zu werden, ist unerträglich. Die Frau verblutet von Tag zu Tag mehr in ihrem Umfeld. Sie gehört nicht mehr dazu. Sie wird nie wieder dazu gehören. Eine Fremde bleibt sie sogar in ihrem eigenen Leben. Die Berührung mit Jesus hebt sie aber auf. Er ist nicht unnahbar. Mehr, er lässt sich berühren, er lässt sich rühren. Er gibt seine Kraft ab. Das ist doch ein Wunder, das jeden Tag neu geschehen kann: wenn wir Menschen liebevoll annehmen, sie nicht auf Geschick und Krankheit festlegen, ihnen unsere Nähe schenken. Menschen leben dann auf. Sie können dann auch ihre Leiden annehmen und glücklich sein. Wunder sind größer als die vermeintlichen Ausnahmen, an die wir gerne denken, derer wir aber nicht Herr werden. Das größte Wunder ist die Liebe. Sie gibt dem Glauben seine Kraft.

Das Mädchen ohne Namen, Tochter des Jaïrus, steht auf. Zum Leben. Talita kum! Der Tod hat nicht das letzte Wort. Viele junge Menschen, ob 12 Jahre, jünger, älter, sind vom Tod nicht nur bedroht, sie leben Tag für Tag in seinem Angesicht. Sie sehen, dass das Leben eines Menschen nichts ist, wenn Hass und Gewalt zügellos frei gelassen werden. Leichen liegen am Weg. Wie viel Rohheit müssen kleine Seelen schon verschmerzen! Einige Bilder kennen wir, die meisten nicht. An vielen Orten wird die Jugend geopfert. Talita kum! ist ein Aufschrei. Komm daraus! Schnell! Schnell! Aber viele Grenzen sind dicht gemacht. Sie sollen noch undurchlässiger werden. Mit sprachlichen Mitteln werden Menschen zu Ungeheuern stilisiert. Mit sprachlichen Mitteln werden Ängste geschürt. Wir sollen oft nur die potentiellen Straftäter sehen. Aber nicht die Traumata. Das Reich des Todes frisst zuerst die Seelen, die keine Hoffnungen haben – leider auch unsere. Haben wir schon einmal überlegt, wie viele – junge – Menschen keine Zukunft haben? Verglichen mit dem Wunder, Menschen eine Zukunft zu geben, ist die Totenerweckung des Mädchens schon fast ein Heimspiel Jesu. Entschuldigung, nicht einmal ein großes. Das größte Wunder ist die Liebe. Sie gibt dem Glauben seine Kraft.
Die Kraft, eine neue Welt zu sehen.
die Kraft, für eine neue Welt zu kämpfen,
die Kraft, es mit dem Tod aufzunehmen.

DIE NEUE WELT

Ich liebe Wundergeschichten. Immer mehr. Sie kommen aus einer anderen Welt. Aber sie schaffen auch eine neue Welt. Naturgesetze gelten nicht, der Lauf der Dinge läuft nicht, es gibt auch keine Angst mehr. Alles ist so einfach. In der Regel genügt ein Wort. Vielleicht kommt noch ein kleines Zeichen dazu. Mehr muss nicht sein. Aber dann ist die Welt wieder in Ordnung. Sie wird geheilt. Und als Krönung muss sogar der Tod seine Beute wieder hergeben.
Toll! Tollkühn! Aus zwei Wundergeschichten wachsen ganz viele!

Seneschall Matthias David