Dank moderner Technik fühlen wir uns über viele Hindernisse erhaben. Es gibt aber vieles, was uns hindert, ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen. Durch die Taufe sind wir der Dunkelheit und dem Tod entrissen. Dieses Bewusstsein gibt uns Kraft, die Hindernisse, die uns von einander trennen, zu überwinden.
HINDERNISSE
Uns allen ist der Bibelspruch sehr geläufig: „Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel und heben sollen sich die Täler zu ebenen Land“. Heute haben wir diese Worte in der ersten Lesung aus dem Buch Baruch gehört, ähnlich schreibt der Prophet Jesaja und auch Lukas beweist mit diesen Worten die Erfüllung der alttestamentlichen Prophetien.
Für unsere heutigen Architekten und Landschaftsplaner stellen Berge und Täler kein unüberwindbares technisches Problem mehr dar. Denken Sie nur an die Europabrücke oder den Semmeringbasistunnel oder ähnliche Beispiele. Alles ist mit mehr oder weniger großem Aufwand machbar. – Alles ?
Wirklich alles ?
Gibt es in unserem persönlichen Leben nicht immer wieder Berge und Täler in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, die zu überwinden nahezu unüberbrückbare Hindernisse darstellen? Gibt es nicht auch in unserem individuellen Leben als endliche und verletzliche Menschen trotz medizinischer Fortschritte und dem heute vielfach gepflegten Jugendlichkeitswahn Hindernisse auf dem Weg, die sich nicht wegräumen lassen? Oder stehen wir nicht auch immer wieder vor Unüberwindlichem, wenn von uns als von Christus Erlöste und in der Taufe von Gott als Kinder Angenommene, freie Entscheidungen gefordert werden, und wir aber den leichteren, den gangbareren Weg wählen und nicht der im Inneren erkannten Wahrheit folgen, sondern nirgends anecken wollen. Vor lauter „Rück-sichten“ lavrieren wir uns so durch, dass wir den Rücken frei haben, keinen Angriff von außen fürchten müssen. Wie oft vergessen wir als freie und aufrechte Menschen zu leben?
AN LEIB UND SEELE BEDROHT
Wenn uns Lukas das Auftreten des Johannes in der Wüste schildert, dann soll das das Volk Israel und damit auch uns heutige Leser an die Wüstenerfahrung des Volkes nach der Befreiung aus Ägypten und die Gotteserfahrungen, die sie dabei gesammelt haben, erinnern. An eine Zeit, in der sie sich nicht in der Sicherheit der nächsten Ernte auf ihren Feldern wiegen konnten. Damals waren sie auf das Manna angewiesen, das ihnen Gott täglich zukommen ließ. Wüstenerfahrung ist immer auch mit der Vorstellung von Orientierungslosigkeit, Ausgesetztheit, Unsicherheit von Wetter, Nahrung und Wasser, mit Einsamkeit und dem Fehlen menschlicher Gemeinschaft und Unterstützung verbunden. Eine Bedrohung an Leib und Seele schlechthin.
An Leib und Seele bedroht sind wir im übertragenen Sinn auch hier in unserem gesicherten und abgesicherten europäischem Leben. Nicht nur die vielen Asylanten und die vom islamistischen Terror bedrohten Menschen in Paris, Brüssel und Tunis erfahren ihre Verletzlichkeit auf allen möglichen Ebenen, auch wir selbst sind jeder als Mensch zutiefst verletzlich und stets dem Tod ausgesetzt. Gegen diese Endlichkeit und Verletzlichkeit allen menschlichen Lebens ist kein Kraut gewachsen. Das erfahren wir selbst immer wieder, wenn einer unserer Lieben stirbt oder wenn uns plötzlich und unerwartet eine Krankheit trifft. Dann erst denken wir daran, wie kostbar doch jeder Augenblick ist, den wir in der Begegnung mit anderen erfahren dürfen. Da beginnen wir meist erst den Wert und die Würde des Lebens, des eigenen und des anderen zu schätzen.
MENSCHENWÜRDE TROTZ VERLETZLICHKEIT
In der Verletzlichkeit und Endlichkeit eröffnet sich ein Raum der Größe und Bedeutung jedes Lebens. In dem Bewusstsein der Endlichkeit und Verletzlichkeit jedes Menschen liegt seine Würde begründet. Eine Würde, die es bei jeder Begegnung zu wahren gilt und gegen die wir alle sooft fehlen.
Im Buch Genesis, heißt es (Gen 1,26): „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.“ Traditionsgemäß wird diese Bibelstelle, die von der Gottähnlichkeit des Menschen spricht, immer mit der Begründung der Menschenwürde in Zusammenhang gebracht. Ähnlich ist nicht gleich. Nur Gott hat keinen Beginn und kein Ende. Der Mensch ist, was sein irdisches Leben anbelangt, endlich; seine Seele, so glauben wir, hat einen Beginn, stirbt aber nicht, sondern lebt weiter.
EINGETAUCHT IN DIE NOT DES TODES
In wenigen Tagen feiern wir die Menschwerdung Gottes. Auch Jesus hat in seiner menschlichen Natur Leid, Schmerz und Tod erfahren. In der Taufe stirbt symbolhaft auch in uns der alte Mensch und wird in Christus neu geboren. In den Ostkirchen ist dieses Symbol des Sterbens weit deutlicher ausgedrückt als im westlichen Taufritus. Dort wird das nackte Baby, dem der Priester mit einer Hand die Nase zuhält und sie schützend vor den Mund hält, zur Gänze im angewärmten Wasser untergetaucht. Der Mensch wird gleichsam dem Tod ausgesetzt und erhält in der Taufgnade neues Leben. Das ist die Antwort unseres christlichen Glaubens auf die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen. Das heißt Erlösung.
Vielleicht erinnert uns die Dunkelheit dieser Adventstage bis zur Wintersonnenwende und dem darauffolgenden Weihnachtsfest mit der Fülle von Licht an die dunklen Seiten menschlichen Lebens. Vielleicht fällt uns das eine oder andere Mal in der Begegnung mit anderen ein, wie verletzlich und endlich wir doch alle gemeinsam sind, wie kostbar jeder Augenblick ist, den wir miteinander verbringen dürfen. Vielleicht ist es gerade das Bewusstsein dieser Würde, die uns allen eigen ist, die eine Brücke über den Graben baut, der sich zwischen dem Ich und dem Du aufgetan hat. Dieses Bewusstsein gibt uns die Kraft durch die Berge von Missverständnissen und Verletzungen hindurch den Weg vom Ich zum Du zu finden. So wird Gott Mensch in unserem realen Leben und nicht nur am 25. Dezember unter dem Christbaum.
Ordenskaplan Matthias David