Predigtgedanken zum 4. Fastensonntag (Lk 15:1 – 3.11 – 32)
OFFENE BEGEGNUNG
Ob sich die beiden Brüder getroffen haben, jetzt beim Fest – oder auch später? In der Geschichte, die Jesus erzählt, bleibt offen, wie der Tag zu Ende geht. Aber so farbig und leidenschaftlich erzählt, wissen wir gar nicht, wohin wir schauen sollen. Wir sehen zwei Männer: einer ist zerlumpt und herunter gekommen heimgekehrt – er trägt jetzt ein festliches Gewand und einen Siegelring am Finger – der andere kehrt nach einem langen und harten Tag verschwitzt nach Hause zurück und traut seinen Augen nicht. Man hat ihn nicht einmal gerufen. Wenn er die Musik nicht gehört hätte. . .
Dazwischen der Vater. Er läuft, Alter und Würde vergessend, seinem Sohn entgegen, schließt ihn in die Arme, richtet ihm ein Fest aus. So sieht Barmherzigkeit aus – denke ich. Ob der Vater überhaupt weiß, wie tief sein Sohn gefallen ist? Bei den Schweinen ist er gelandet! Ausgerechnet bei den Schweinen! Frommen jüdischen Ohren dreht sich der Magen um. Tiefer kann ein Mensch nicht fallen. Das Erbe – längst verjubelt und verprasst. Nichts, aber auch wirklich nichts, was bleiben könnte, einer Erinnerung wert.
Wie dagegen steht der ältere Bruder da! Fleißig, strebsam, engagiert. So richtig bodenständig. Ein guter Sohn. Er wird das Lebenswerk des Vaters erhalten und mehren. Es ist bei ihm in besten Händen. Die Familienchronik bekommt noch viele neue Seiten – und die Bilanzen glänzen. Aber kaum, dass ich es so sage: Woher weiß ich das alles? Was ist, wenn ich nur eine tolle Projektionsfläche für meine Lebensvorstellungen suche? Wieder einmal dem Idealbild eines erfolgreichen Lebensmodells aufsitze? Ich sehe den Vater werben – für den Bruder, der tot war und wieder lebt, der verloren war, aber wieder gefunden wurde. Es ist die Einladung, sich mit zu freuen. Mehr nicht. Da bricht die Geschichte dann ab. Wie lange die Musik wohl noch spielte? Ob sich die Brüder getroffen haben, jetzt beim Fest – oder auch später?
AUSBRUCH UND AUFBRUCH
Mich hat diese Geschichte immer schon fasziniert. Seit Kindertagen. Die Bilder aus meiner Kinderbibel habe ich heute noch vor Augen. Heute weiß ich auch, was mich an dieser Geschichte so bewegt: dass ein Mensch fehlen, gar sein Leben verfehlen kann – und doch nicht verloren geht. Ich kenne das auch anders: wer tief fällt, bleibt unten. Ein Wort von Brecht geistert durch meinen Kopf: Lass fallen, was fällt – gibt ihm noch einen Tritt! Zumindest: Die Zukunft ist verbaut.
Aber bleiben wir doch noch ein wenig bei dem „verlorenen Sohn“ – unter dieser Bezeichnung hat er zumindest sprachlich Karriere gemacht. Ob die Bezeichnung aber richtig ist? Es ist doch die Geschichte eines Menschen, der aus der kleinen Welt ausbricht und die große Welt erobern will. Als jüngerer Sohn kann er sich auch nur sein Erbteil auszahlen lassen und dann sein eigenes Glück suchen. Die Erbfolgeregelung ist klar – auch, dass jetzt ein eigener Weg ansteht. Verwerflich ist hier nichts. Eher selbstverständlich. Nein, als der Sohn geht, ist seine Geschichte offen. Hätte er denn – zu Hause bleiben sollen? Als Juniorpartner ohne eigenes Recht? Womöglich als erster Knecht?
Der Vater gibt ihm alles mit: seine Liebe und sein Erbteil. So viel Vertrauen!
Dieses Vertrauen trägt den Sohn, als er am Ende ist, auch wieder nach Hause. Wie viel Mut dazu gehört – ich zittere richtig mit. Ob mein Stolz mir nicht im Wege stünde? Es gehört schon etwas dazu, so nach Hause zurück zu kommen. Ohne etwas vorweisen, ohne etwas mitbringen zu können. Erbe verspielt, Chancen verspielt, Zukunft verspielt. Ein Verlierer, aber: ein Verlierer mit ganz viel Vertrauen – das ist der Sohn. Darin ganz und gar der Sohn seines Vaters. Manchmal fällt mir auf, wie eng mir diese Geschichte gerät. In den buntesten Farben male ich mir aus, was dieser Typ in der Ferne alles anstellt – und mein Zeigefinger wächst. Nur: Jesus erzählt die Geschichte mit ganz viel Liebe. Er erzählt die Geschichte eines Menschen, der in seinem Leben zwar alles verspielt, aber in seinem Vertrauen wächst. Der Voyeur in mir sieht sich bloßgestellt. Was kann ich denn wirklich sehen? Wirklich wissen?
Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist provoziert. Als einer, der sich mit Sündern an einen Tisch setzt, sozusagen auf dem Präsentierteller, vor den Augen sämtlicher Frommen, kennt er die Wege seiner Schützlinge. Ihnen gegenüber werden unendliche Sündenregister zusammengestellt, Vorwürfe gesammelt und Vorurteile gepflegt, aber Jesus erzählt die Geschichte eines Vaters, der seinen Sohn freigibt – und ihn wieder aufnimmt, der ihn gehen lässt – ihn aber aus dem Dreck aufhebt , der ihm Vertrauen mitgibt – und sein Vertrauen erntet. Eine Wundergeschichte also. Nichts für Moralisten. Nichts für Kleingeister. Die werden immer nur die Auswüchse suchen, die Aufbrüche aber nicht zu würdigen wissen.
MUT ZUM LEBEN
Ich komme noch einmal zurück auf die Redeweise vom „verlorenen Sohn“. Der Vater nennt ihn so – weil er sich freut, ihn gefunden zu haben. Ja, er freut sich so sehr, dass er zur Mitfreude einlädt. Wir hören ihn rufen: Mein Sohn war tot . . . mein Sohn war verloren . . . War! Vergangenheit. Wir sehen den Schlussstrich förmlich. Eine große Entdeckung in dieser Geschichte: Es geht nicht um Verlorenheit – es geht um Gefunden sein.
Ich kenne viele Menschen, die sich einmal neugierig, mutig und mit vielen guten Vorsätzen auf das Abenteuer Leben eingelassen haben. Aber dann ging manches anders als geplant oder erwartet. Eine Beziehung ging auseinander. Ein Job wurde zum Albtraum. Finanziell hatte man sich verspekuliert. So oder so: Träume platzten wie Seifenblasen. In vielen Fällen kam die Angst dazu, etwas falsch, gar sich schuldig gemacht zu haben. Im Hinterkopf ist immer, dass ein Leben gelingen muss – und wenn es dann scheitert? Unansehnlich wird? Oft sind nicht einmal Menschen in der Nähe, die zuhören, überlegen, mittragen können. Was in Jesu Geschichte bei den Schweinen endet, endet in vielen anderen Geschichten im Suff, vor dem Kadi oder beim Therapeuten. Menschen haben ein feines Gespür dafür, wann etwas zu Ende ist. Wenn dann noch die Hoffnungslosigkeit dazu kommt, gerät Leben in einen gefährlichen Bannkreis.
Ich bin überrascht, dass sich der Sohn nicht erklären muss und der Vater keine Vorhaltungen macht. Wäre es vielleicht nicht sogar hilfreich, klärend, befreiend, jetzt ein Gespräch zu führen? Dass das Evangelium das – jetzt – nicht erzählt, heißt auch nicht, es habe kein Gespräch gegeben. Nur – jetzt – ist die Umarmung dran, das Fest, die Freude. Das sollen wir sogar mit offenen Augen sehen. Und uns mitfreuen. Das Bekenntnis fehlt gleichwohl nicht. Ich habe gesündigt – sagt der „verlorene Sohn“. Ein offenes Bekenntnis, das Wunder wirkt. Damit wird die eigene Erfahrung nicht schlechtgemacht, aber auch nicht gut geredet, das eigene Leben nicht verdammt, aber auch nicht entschuldigt. Es geht um den neuen Anfang!
BROT UND WEIN
Jesus erzählt diese Geschichte ganz frommen Menschen. Das ist nicht einmal ironisch gemeint. Er erzählt ihnen, ebenso einfach wie glanzvoll, warum er sich mit Sündern trifft, mit ihnen isst, ein Teil ihrer Geschichte wird: weil er die Verlorenen sucht und findet – und auch die, die verloren gegeben werden, ihrem Schicksal entreißt. Eine große Wahl lässt er uns nicht: Wer sich nicht mit freut, der bleibt draußen. Der geht verloren. Eine schreckliche Perspektive für den älteren Bruder. Ob sich die beiden Brüder getroffen haben, jetzt beim Fest – oder auch später? Vielleicht ist es gut, dass Jesus die Geschichte offen hält. Für mich.
Wenn wir Brot und Wein auf den Altar stellen, in einem großen Lobpreis die Taten Gottes rühmen und Christi Opfer unter uns gegenwärtig wird, dann wird unter uns auch die Geschichte lebendig, in der Tote zu leben anfangen und verlorene Söhne und Töchter nach Hause kommen.
Ordenskaplan Matthias David