EINE GESCHICHTE VON MÄNNERN UND FRAUEN

(Predigtgedanken zum 27. So. i. Jahreskreis / 19. So. n. Trinitatis, Mk 10:2-16, Gen 2:18-25, Hebr 2:5-18)

Jesus bezieht sich in seiner Ablehnung der Ehescheidung auf die Erzählung von der Erschaffung der Eva aus der Rippe Adams. Was wie ein Märchen anmutet enthält bei näherem Hinsehen die tiefe Sehnsucht des Menschen nach inniger Beziehung.

DAS GEHEIMNIS DER RIPPE

Vorhin habe ich meinen Brustkorb noch einmal abgetastet: Mir fehlt keine Rippe. In den Lehrbüchern der Anatomie findet man auch keinen Hinweis, dass Männer eine Rippe weniger hätten. Und die Evolutionsbiologen, allesamt kluge Leute, wissen sehr viel über den Menschen, seine Vorgeschichte, seine Entwicklung, seine Gefährdungen – das Geheimnis der Rippe kennen sie zwar, nur anders.

Die erste Lesung haben Sie noch im Ohr? Es ist ein Stück aus der Urgeschichte, wie wir sie aus der Hand eines der ersten biblischen Geschichtsschreiber überliefert bekommen. Eigentlich ganz logisch und gar nicht so dumm: Es gibt den Menschen, der allen Dingen ihre Namen gibt und ihnen ihre Bedeutung zumisst. Bis heute hat sich nicht viel daran geändert. Doch was ist der Mensch, wenn er alleine ist mit seiner Klugheit? Mit seiner Macht? Was nutzt ihm seine Deutungshoheit? Sein ständiger Höhenflug? Die Nobelpreise, die Exzellenzinitiativen und Exzellenzcluster?

Die alte Geschichte erzählt geradezu rührend davon, dass Gott findet, der Mensch könne nicht alleine bleiben. Es ist, als ob seine Schöpfung ins Leere läuft, wenn der Mensch mit sich alleine leben müsste. „Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht!“ Was dann erzählt wird, ist zwar auf dem ersten Blick fremdartig, ein bisschen märchenhaft, aber es ist eine liebenswerte kleine Geschichte, die mit wenigen Worten auskommt: Erst fällt der Mensch in einen tiefen Schlaf, dann wird die Gefährtin geformt, schließlich die Wunde geheilt. Klar, von einer Rippe ist die Rede. Doch sie erzählt von dem Geheimnis, dass es den Menschen nur als Mann und Frau gibt, mehr: dass die beiden von Anfang an eine gemeinsame Geschichte haben, untrennbar verbunden, für einander bestimmt.

TIEFE SEHNSUCHT NACH BEZIEHUNG

Viele mittelalterliche Künstler, Buchmaler und Illustratoren, haben diese Geschichte in Farben einzufangen versucht. Da liegt ein Mensch im Paradies. Ganz alleine. Umgeben von prächtigen Pflanzen und Tieren, von Sonne und Mond. Eine große, schöne, bunte Welt. In ihr ein einsamer, kluger Mensch. Er kennt alle Dinge, erfasst sie in Wörterbüchern und Lexika, häuft Wissen über Wissen im Internet an, formuliert Formeln und Weltformeln, chemische und physikalische Gesetze, Werte und Tarife, doch er liegt einsam im Garten. Der tiefe Schlaf, von dem die alte Geschichte träumt, sagt mehr als tausend Worte. Es ist die Sehnsucht, mehr zu haben als die Dinge, mehr zu wissen als die Begriffe, mehr zu sagen als die Worte.

Es gibt dicke Bücher und weniger dicke Wikipediaeinträge, die die Geschichte, die die Entwicklung, die Höhenflüge des Menschen beschreiben. Aber ich habe noch nie eine so kurze, lebendige und schöne Darstellung gefunden wie die, die uns heute noch einmal erzählt wird. Als der Mensch aufwacht, ist er nicht mehr alleine. Ihm ist das passende Gegenüber, der andere Mensch an die Seite gegeben, geradezu aus seiner Seite gekommen. Maler wussten die bezaubernde Schönheit dieser ersten Begegnung einzufangen. Die Überraschung. Die Spannung. Und: Der Mensch ist nackt. Unbekleidet, unverkleidet. Was bedeutet es, wenn ein Mensch nicht mehr alleine ist? Auf einmal! Ab jetzt braucht er das Gespräch. Ohren, die Zwischentöne hören. Ab jetzt braucht er Verständnis. Auch Vergebung. Geduld sowieso. Ab jetzt wächst auch das Bedürfnis, sich Masken zuzulegen und in einer Rolle zu verschwinden. Denn aus der Nähe kann Fremdheit werden, aus Vertrauen Angst, aus Offenheit Schweigen.

Die Kunst, Dinge zu benennen und ihnen ein System zu verpassen, ist nichts gegen die Kunst, den anderen Menschen nicht nur auszuhalten, sondern zu lieben. Ihn anzunehmen als meinen Teil, als Teil von mir. Spannend: In dieser Geschichte nimmt Gott nicht vom Geist des Menschen, nicht von seiner Ratio, nicht von seinem Wissen – es genügt eine Rippe. Rippen bergen den Brustkorb, das Herz und die Lunge, Rippen verhelfen zum aufrechten Gang, Rippen machen jede Bewegung schmiegsam und fest zugleich.

Ich weiß, dass diese Geschichte von der Rippe auch unheilvolle Verformungen und Missverständnisse hervorgebracht hat, zumindest spiegelt. In vielen Köpfen, tatsächlich noch bis heute, ist der Mann das Urbild eines Menschen. Als sogenannte Herren der Schöpfung sind Männer in die Geschichte eingetreten, als Macher und „Führer“, als Krieger und Weise, doch oft als Teufel, als Witzfiguren und Schatten ihrer selbst herausgekommen. Sprachlich wurden Frauen als „Nicht-Männer“ bezeichnet („woman“), was Abhängigkeiten begründen sollte und Unterwerfung ausdrückte. Worte verraten viel. Oft mehr, als uns lieb sein kann. Dann steht unsere kleine Geschichte auch am Anfang einer Leidensgeschichte, in der sich Männer und Frauen nur verlieren konnten. Mit Machtspielen und Intrigen, gesellschaftlicher Ächtung und primitiven Abgrenzungen. Nichts von dem Reiz, von der Schönheit, den anderen Menschen jetzt zu entdecken, als Teil meiner selbst. Die alte Geschichte kommt mit einem Satz aus, doch die Züge sind überwältigend. Überwältigend, weil sich in der Rippe das Geheimnis der Liebe versteckt. In einer Rippe!

WAS GOTT VERBUNDEN HAT …

Im Evangelium lauschen wir dem Zwiegespräch der Pharisäer mit Jesus. Die Fragerunde der Jünger bekommen wir auch mit. Es geht um ein brisantes Thema: um Scheidung. In der jüdischen Welt, in der Jesus zu Hause ist, ist es ein heißes Eisen. Gruppen, die Scheidung ablehnen, stehen Gruppen gegenüber, die pragmatisch mit dem Thema umgehen: Wenn es nicht anders geht, soll eine Ehe auch geschieden werden können. Vielleicht sogar als letzter Liebes-Dienst. An dem Punkt sind die Pharisäer fortschrittlich und, wie wir sagen würden, „liberal“. Die Frauen sind dabei oft ins Leere gefallen, fallengelassen. Eine Zukunft hatten die meisten von ihnen nicht. In der Regel waren es auch die Männer, die sich oft aus lumpigen Gründen von ihren Frauen trennten. Von einer gemeinsamen Geschichte auch. Ein verbranntes Essen musste damals schon als Scheidungsgrund herhalten.

Jesus, der auch sonst gerne im Streitgespräch mit den Pharisäern aufgefunden wird, kann sich ihnen nicht anschließen. Jesus spricht von Schuld, von Härte des Herzens. Und von dem Willen Gottes, dass nicht getrennt, nicht geschieden wird, was Gott verbunden hat. Jetzt kommt die alte Geschichte aus der Ur-Zeit zu einem neuen Glanz.

Statistiker können für jedes Jahr die Scheidungsziffern mitteilen. Sie sind hoch. Doch hinter Zahlen stehen Menschen mit ihren Geschichten und Gesichtern. Viele sind gezeichnet. Aus großen Liebesgeschichten werden lange Leidensgeschichten, die oft unversöhnlich sind und verbittert dauern. Doch wenn zwei Menschen Ja zueinander sagen, kennen sie keinen Vorbehalt und keine Angst.
Sie träumen nicht nur davon, dass sie für einander bestimmt sind, sie versprechen sich Treue und Liebe, bis dass der Tod sie scheidet. Kein Mensch, keine Situation, kein Leid. In Kose-Namen bekommt der andere Mensch seine Bedeutung für mich. Unabhängig von Geld, Titel und Herkunft.
Mein Schatz! Und es ist wirklich der Schatz!

Im Buch der Anfänge, in der Genesis, heißt es, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, er schuf ihn als Mann und Frau. Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. So umschreibt Johannes das. Gott verbindet sich in der Liebe mit Menschen. Gott verbindet Menschen in Liebe. Gott nimmt eine Rippe in die Hand und schafft etwas ganz Neues.

VERSCHLOSSENE WUNDE

Das heiße Eisen ist uns geblieben. Geblieben ist aber auch die Sehnsucht nach ganzer, ungeteilter, alle Zeitläufe überdauernder Liebe. Diese Sehnsucht kommt auch dann zum Ausdruck, wenn Menschen, die in ihrer Liebe gescheitert sind, am Tisch des Herren seine Liebe schmecken. Seine Liebe ist größer als der Tod.

Jetzt sehen wir noch einmal den einsamen Menschen. Wir sehen den tiefen Schlaf. Was geht jetzt nicht alles durch Kopf und Herz? Das Gefühl der Leere? Die Unvollkommenheit in aller Klugheit? Der Wunsch nach Nähe und Liebe? Dann ist – auf einmal – ein anderer Mensch da. Er kommt nicht einfach von irgendwo her. Er schleicht sich nicht in das Leben ein. Er ist ein Teil von mir. Ich, nur anders. Ohne ihn fehlt etwas. Fehlt alles. Fehle ich.

Die alte Geschichte, die ohne viele Worte auskommt, aber vielen Worten freien Lauf lässt, lässt uns auch die Wunde sehen, die die entnommene Rippe hinterlässt. Das Loch übersehen wir in der Regel, weil wir im Bann der Rippe sind. Und ganz abgesehen davon, unangenehm berührt. Die Szene ist zudem intim. Aber die Wunde geht mir nicht aus dem Kopf. Sie steht für alle Verwundungen, die Liebende erleben, für alle Verwundungen, die nicht heilen wollen, für alle Verwundungen, die tief blicken lassen.

Die Geschichte endet mit dem Staunen, dass die Wunde heilt. Dass sie verschlossen wird. Ob eine Narbe zurückbleibt? Der unbekannte Verfasser dieser alten Geschichte schweigt sich darüber aus. Er ist ein großer Menschenkenner, weniger ein Chronist. Wie es wirklich gewesen ist, erfragt er nicht. Dadurch aber kann er erzählen, wie es wirklich gewesen ist. Wir könnten glücklich sein, wenn Menschen eine Ahnung davon hätten, dass ihnen etwas fehlt, dass da etwas war, dass es eine Wunde gibt. Die ganz mit mir zu tun hat. Mit meiner Rippe.

Ganz nebenbei, Sie haben es längst bemerkt, erzählen wir diese Geschichte als eine Geschichte von Männern und Frauen. Als eine Geschichte vom Menschen. Von der Einsamkeit, dem Alleinsein. Von dem tiefen Schlaf und der tiefen Sehnsucht. Von dem Geschenk des anderen Menschen. Von seiner Schönheit. Von der Liebe.

Vorhin habe ich meinen Brustkorb noch einmal abgetastet: Ich glaub‘, mir fehlt eine Rippe. In den Lehrbüchern der Anatomie habe ich zwar nichts gefunden, aber in den vielen Lebens- und Liebesgeschichten. Und die Evolutionsbiologen, allesamt kluge Leute, wissen sehr viel über den Menschen, seine Vorgeschichte, seine Entwicklung, seine Gefährdungen – das Geheimnis dieser einen Rippe kennen sie nicht. Aber ich! Dass man dafür einen Gottesdienst feiern muss – erstaunlich!

Seneschall Matthias David