(zum 28. Sonntag im Jahreskreis, Mk 10:17 – 30)
LEBENSFRAGE
Geld, so sagen die Leute, verdirbt den Charakter. Dass Geld auch die Nachfolge Jesu verdirbt, wer hätte das gedacht, ohne die Geschichte dieses Mannes zu kennen? Irritiert, wenn nicht gar entsetzt, bin ich schon. Tugendsam, folgsam, fromm ersteht er vor unseren Augen. „Alle diese Gebote habe ich von Jugend auf befolgt“ – sagt er. Und nennt Jesus: Meister. Sogar guter Meister! Eigentlich gehört ihm, landläufig betrachtet, das ewige Leben längst. Warum fragt er überhaupt danach, was er tun muss, um das ewige Leben zu gewinnen? Hat er das Gefühl, ihm fehle etwas? Ist es immer noch nicht genug, ist er immer noch nicht gut genug? Mir wird angst und bange.
Bleiben wir einmal in dieser kleinen Szene! Markus schildert die Begegnung. Ein Mann läuft auf Jesus zu, fällt ihm zu Füssen, fragt ihn – stellt ihm die Lebensfrage schlechthin. Es geht ihm um ewiges Leben. Alles andere hat er wohl schon. In jeder Hinsicht. Reichtum, materielle Unabhängigkeit, Ansehen. Als Jesus ihn auf die Gebote Gottes anspricht, kann er auch da nur Erfolge melden. Alles gehalten! Perfekt! Wir sehen einen Menschen vor uns, der mit sich, mit Gott, mit der Welt im Reinen sein könnte. Ich kann diesen Lebensentwurf nicht einmal schlecht machen, Zweifel äußern, bedächtig den Kopf wiegen. Mein Freund Markus tut das auch nicht. Er erzählt nur.
WAS FEHLT
Der Mann, der uns ohne Namen, ohne Gesicht erscheint, ist – trotz allem und mit allem – von einer großen Leere heimgesucht, wenn nicht gar gefangen. Der Blick in sein Herz ist uns verwehrt, wir sehen ihn in demütiger Haltung vor Jesus knien. Das Gefühl von Leere ist wohl unabhängig von allem, was ein Mensch in seinem Leben erreicht hat.
In stiller Stunde, ohne Angst zu haben, sich zu outen, erzählen Menschen, was ihnen fehlt. Hören wir einmal, was sie erzählen:
Schnell, zu schnell, sei er zu Wohlstand gekommen. Es fluppte alles. Innerlich sei er aber nicht mitgekommen. Erzählt der Mann, an den ich jetzt denke. Wir sind nach einem Gottesdienst ins Gespräch gekommen. Draußen, vor der Kirchentür. Er hätte alles, könne sich alles leisten, aber glücklich sei er nicht. Wie ein Getriebener fühle er sich. Am liebsten würde er aussteigen. Aber aus mehreren Gründen könne er das nicht. Dabei dachte ich immer, er sei mit sich und seinem Leben zufrieden. Ich beneidete ihn sogar, zumindest gelegentlich. Erfolg hat immer eine schöne Seite. Die andere konnte ich nicht sehen. Was ihm denn fehle, frage ich. Er suchte nach Worten. Die Leute würden ihn nur des Geldes wegen mögen, geliebt sei er nicht. Ob er das denn so genau wüsste, frage ich zurück. Nach kurzer Bedenkzeit sagte er nur: Ich kann mich selbst nicht lieben. Ich wäre gerne ein anderer Mensch. Der nicht so gefangen ist von den Dingen. Manchmal kann ich mich nicht einmal ertragen. Ich hasse mich. Sie wissen schon, sagte er. Ich hörte nur zu.
Zwei Tage vor der Beerdigung sitze ich im Wohnzimmer der Trauerfamilie. Die Menschen, die jetzt zusammen sitzen, erzählen, eigentlich wild durcheinander. Ich muss mir ein Bild machen, um Worte zu finden. Leicht fällt es mir nicht, den Faden zu finden. Man zeigt mir ein Bild. Aus glücklichen Tagen. Schnell merke ich aber, dass den Menschen etwas quält. Behutsam frage ich nach, möchte, dass Sätze auch ausgesprochen, nicht abgebrochen werden. Langsam schält sich heraus, dass die Mutter im Unfrieden gestorben sei und keine Zeit mehr gehabt hätte, Dinge in Ordnung zu bringen, die sie unbedingt noch in Ordnung bringen wollte. Es ging wohl um eine Geldgeschichte, Erbschaftsangelegenheit oder so. Sie hätte alles gehabt, sei hoch angesehen gewesen, auch sehr auf ihr Ansehen bedacht, aber die alte Geschichte sei wie ein Schatten gewesen, der über der Familie lag. Was die Menschen erzählen, nehme ich auf, das meiste muss ich mir zusammenreimen. Ich verstehe schon: eine Frau ist mit einem Loch im Leben gestorben. Ob Gott sie so annehmen könne, fragen die Angehörigen. Die Frage kommt nicht überraschend. Sie stand von Anfang an im Raum.
Wir Menschen stoßen, gelegentlich, manchmal auch immer wieder, auf die leeren Punkte in unserem Leben, über die wir meistens nur geschönt – oder verschämt – reden können. Ich bin dem Evangelisten Markus heute dankbar, dass er uns die Zunge löst. Einfach, indem er eine Geschichte erzählt, die Geschichte von einem Menschen, der zu Jesus läuft. Wir sind versucht, eine heilige Geschichte daraus zu machen, aber es ist viel einfacher, alltäglicher: Wenn ich auf Leere stoße, auf Löcher, auf Fragen, darf ich meine Füße in die Hand nehmen. Es ist ein treffendes, schönes Bild: Ich finde das Leben!
WAS GESCHENKT WIRD
Entschuldigung, ich habe Ihnen noch gar nicht erzählt, dass das Evangelium, wie wir es heute bei Markus lesen, zu einem urchristlichen Katechismus gehört. Vielleicht lesen Sie einmal das 10. Kapitel bei Markus. Sie werden überrascht sein. Kleine Geschichten, kleine Sentenzen. Von den Kindern, von Eheleuten, dann eben auch von dem Umgang mit dem Reichtum – und den Reichen. Diese Themen bewegten die Christen schon ganz am Anfang. In ihnen entdeckten sie auch das Neue, das mit Jesus in die Welt gekommen war. Sie konnten auch sich als neue Menschen entdecken.
Diese ursprüngliche Art, Geschichten zu erzählen, gefällt mir ausgesprochen gut. Geschichten dürfen wir weiterlesen. Geschichten lassen sich auch nie ganz ausschöpfen. Geschichten können morgen schon wieder ganz anders auf uns wirken. Schließlich legen wir unsere Geschichten dazu. Von erfülltem Leben, von verfehltem Leben, von Löchern, leeren Stellen und einer großen Sehnsucht. Nach Jesu Nähe. Ich muss wieder an unseren „reichen“ Mann denken: er hängt sich an Jesu Füßen. Einerseits sieht das nach Unterwerfung aus, mehr aber nach Annäherung. Oder sagen wir es doch gleich so: Ein Mensch hält Jesus fest.
Tragisch ist, dass er wieder aufsteht und traurig weggeht. Er konnte sich nicht frei machen von seinem Reichtum. Er konnte den letzten Schritt nicht tun. Er konnte Jesus nicht festhalten. Ich frage mich: Konnte Jesus denn wirklich von ihm verlangen, alles abzugeben, alles loszulassen? Aber für diesen Mann wäre das die einzige Lösung gewesen, die Leere in seinem Leben zu füllen. Für diesen Mann! Er hätte dann, sozusagen in der Begleitung Jesu, noch einmal neu anfangen können. Er hätte neu anfangen müssen!
Mit jedem Menschen hat Gott aber eine eigene Geschichte, einen eigenen Weg.
Es mag ja sein, dass ein Kamel nicht durchs Nadelöhr geht, auch, dass ein Mensch nicht von sich aus ins Reich Gottes kommt. Aber Gott macht beides möglich: dass ein Kamel durchs Nadelöhr geht und dass ein Mensch ins Reich Gottes kommt. Oder, wie es am Anfang der Geschichte schon angedeutet wird: dass ein Mensch ewiges Leben gewinnt. Erhält! Geschenkt! Gott ist der, der das Unmögliche möglich macht. Das ist ein schöner Name für Gott, den Jesus findet. Für uns.
WISSEN SIE EIGENTLICH, WAS EWIGES LEBEN IST?
Wenn ich von Gott so geliebt und angenommen bin,
dass ich den Tod nicht mehr fürchte,
dann bin ich bei ihm geborgen.
Wenn ich so geliebt und angenommen bin,
dass mich die Dinge nicht mehr binden,
dann geht mir die Fülle des Lebens auf.
Wenn ich so liebe und annehme,
dass Menschen frei werden von Angst,
dann gehe ich mit zu ewigen Leben.
Ordensgeistlicher Matthias David