GERECHTIGKEIT, BARMHERZIGKEIT UND KREUZ

Predigtgedanken zum 6. Sonntag im Jahreskreis (Mt 5, 20 – 22, 27 – 28, 33 – 34, 37)

Drei Blicke

Drei Blicke müssen wir heute riskieren! Auf unsere Münder, unsere Augen – und unsere Herzen. Obwohl das Evangelium alles andere ist als gefällig – in ihm liegt das Versprechen einer neuen Entdeckung.

Ich kenne doch böse Worte. Sie rutschen einfach heraus. Im Eifer des Gefechtes. In einem Streit. Ich kann sie auch nicht weder zurückholen – nicht einmal ihren Klang verschönern. Ein Wort kommt zur Welt, wächst, wuchert. Manchmal kann ich mich nicht einmal entschuldigen. Manchmal mag ich es auch nicht. Ich bin doch im Recht!

Ich kenne auch den Blick auf den anderen Menschen, der sich ihm zuwendet, ihn liebevoll anschaut – oder auch auszieht, nackt dastehen lässt, ihm seiner Würde beraubt. Es gibt den Blick, der Macht ausdrückt und Unterordnungen schafft. Man sagt auch, es gäbe den typisch männlichen Blick – auf das „schöne Geschlecht“, den typisch weiblichen Blick – auf das „starke Geschlecht“. Aber was ist schon typisch? Typisch nur, dass ich es nicht erklären kann.

Der dritte Blick ruht auf dem Herzen. Es ist, wie Augustin in seinen Bekenntnisse sagte, unruhig – dabei ist es doch die Mitte der Person, meine Mitte! Oft sehe ich sogar eine Mördergrube – und halte den Blick kaum aus. Ich möchte meine Ruhe haben, auf Zeit spielen, mich nicht jetzt entscheiden müssen. Ich sage „ja“, meine aber „nein“. Verlassen kann ich mich nicht einmal auf mich.

Drei Blicke dürfen wir heute riskieren.

BEICHTSPIEGEL – LEBENSSPIEGEL

Es ist wie ein kleiner Beichtspiegel: Ich höre das Evangelium – und betrachte mich in einem Spiegel. Mich – das heißt auch, einmal nicht auf die anderen zu schauen, über sie zu reden, besser zu sein als sie.

Was sehen wir denn in diesem Spiegel? Zunächst: Drei Gebote, drei Gebote von zehn:
„Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht ehebrechen“ und „Du sollst keinen Meineid schwören“. Aber wir sehen jetzt mehr als Mord, Ehebruch und Meineid – wir sehen den Hass, der sich in Worten Luft macht – wir sehen die Begierde, die aus den Augen kommt – wir sehen, dass selbst der Eid wertlos wird. Jesus schärft uns sozusagen den Blick. Er lässt uns in die Gebote sehen. In die Gebote sehen, heißt, in Gottes Absichten eingeweiht zu werden. Ihm ins Herz zu schauen.

Was ich wie einen Beichtspiegel empfinde, wird zu einem Spiegel meines Lebens.
Ich sehe mich. Ich sehe ihn. Er sieht mich.

Obwohl das Evangelium ziemlich apodiktisch klingt – Zu den Alten wurde gesagt, ich aber sage euch – liegt sein Reiz eher im Verborgenen. Es ist die Ansage einer neuen Zeit.
Jesus hält seine Bergpredigt. Sie gilt als seine Antrittsrede. Jesus umreißt sein Programm, stellt Schwerpunkte vor, lädt zu Veränderungen ein. Wie man das neudeutsch so nennt: er holt, er nimmt Menschen mit. Die aber sind neugierig, offen, erwartungsvoll. Wir sehen uns um ihn versammelt. Eine neue Herrschaft beginnt.

Darum geht es denn auch:
dass Worte nicht mehr töten, nicht mehr verletzen, nicht mehr demütigen –
dass Blicke nicht mehr ausziehen, nicht mehr wehrlos machen, nicht die Würde rauben –
dass Worte trösten, aufrichten und Gemeinschaft stiften,
dass Blicke Herzen öffnen und Vertrauen schenken.
Eine neue Herrschaft beginnt.

EHEBRUCH

Es ist zwar ein heißes Eisen, gehört aber heute in unsere Mitte – das Beispiel Ehebruch. Wie kaum ein anderes Thema hat es mit Worten und Blicken zu tun – mit verlorenen Worten, mit verletzenden Blicken – und mit der Sehnsucht, ein gutes Wort zu hören und liebevoll angesehen zu werden.

Viele Menschen schauen nicht nur auf gute Erfahrungen zurück, die sie in einer Ehe gemacht haben. Aus einer großen Liebe wurde ein – großes Leid. Was in dem Wort „Bruch“ fast untergeht, ist eine Wunde, ein Schmerz, eine Enttäuschung.
Andere erzählen noch nach 40, 50, 60 Jahren, wie reich sie beschenkt wurden und wie schön es war – mit diesem einen Menschen. Von solchen Verhältnissen – und Träumen – gehen wohl auch die meisten Menschen aus, wenn sie den Schritt in die Ehe wagen. Sie versprechen einander Liebe – bis das der Tod euch scheidet.

Zu erzählen wissen wir auch von Menschen, die sich – nach einer Scheidung – trauten, noch einmal zu heiraten und verbindlich „ja“ zu einander zu sagen. Oft hat der Partner, die Partnerin auch schon eine gescheiterte Ehe hinter sich. Manche bringen Kinder mit. Neue Familien finden sich zusammen. Das moderne Wort Patchwork-Familie trifft eigentlich nicht, was geschieht: dass ganz neue Banden entstehen, neues Vertrauen, neue Zukunft.

Ich höre Jesu Wort: Unter euch soll es überhaupt keine Scheidung geben! Dieses Wort steht – es steht auch in seiner Verlässlichkeit und Treue. Sein Wort ist auch nicht klein zu reden. Wir können es nicht einmal verbiegen.
Aber wir sind – nur Menschen. Wir sehen uns schuldig werden. Wir sehen auch, dass wir ein „Ja“ nicht durchhalten können. Wir leiden darunter, aufgegeben zu werden – und einen anderen Menschen aufzugeben. Was oft so leicht und leichtfertig aussieht, entpuppt sich in vielen Fällen als Trauma. Oder auch als ein Geschenk – für einen neuen Anfang. Ein Seelsorger weiß sehr viel davon zu erzählen, hält aber dicht, schweigt – und hört zu.

GRÖSSER UND BESSER

Jesus hat den Anspruch erhoben, dass wir größer, besser sind – als die Pharisäer und Schriftgelehrten. Zumindest hat der Evangelist das so in Worte gefasst. In seiner Zeit beginnen Juden und Christen, trotz tiefer und reicher Verwandtschaft, eigene Wege zu gehen – sich also zu trennen. Das war ein schmerzhafter Prozess. Wir spüren ihn auch in den Worten „größer“ und „besser“ – und sind doch klein, angefochten und verführbar. Das Evangelium gibt uns aber ein Maß, das übrigens immer schon – in der Thora, bei den Propheten, bei den Gesetzeslehrern – galt: wir sehen in Gottes Herz, um unser Leben zu verstehen – und den Weg Jesu zu gehen.

Ich gebe zu: als ich das Evangelium las, war mein erster Gedanke: 100% reichen nicht, 150%ig muss es sein – wenn nicht noch mehr. Die vielen Forderungen, die ich in meinen Leben kennengelernt habe, gerade auch in der Kirche, wanderten, irrten durch meinen Kopf. Nie ist es genug – du musst immer weiter, höher hinaus. Du musst perfekt werden. Und dann überfiel mich der Gedanke: Es reicht nicht, Mensch zu sein. Ich spürte in mir – Angst und Widerwillen.

Jetzt, wo wir uns gemeinsam auf den Weg des Evangelium gemacht haben, eingerahmt von der Bitte, der Herr möge sich erbarmen, und der Einladung, an seinem Mahl teilzuhaben, hat Jesu Wort eine große Kraft.

Nein, ich bin nicht „größer“ und „besser“ als …
Ich will auch nicht „größer“ oder „besser“ sein als …
Ich suche aber bei ihm Barmherzigkeit und Kraft.

Dass Worte nicht mehr töten, nicht mehr verletzen, nicht mehr demütigen –
dass Blicke nicht mehr ausziehen, nicht mehr wehrlos machen, nicht die Würde rauben –
dass Worte trösten, aufrichten und Gemeinschaft stiften,
dass Blicke Herzen öffnen und Vertrauen schenken.
Eine neue Herrschaft beginnt.

Eine alte Legende erzählt von zwei Mönchen, die Streit miteinander haben. Sie können sich nicht einigen, denn jeder von beiden fühlt sich im Recht. Schließlich tragen sie dem Abt ihre Sache vor und bitten ihn, den Streit zu schlichten und für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Abt möchte eine Nacht Bedenkzeit und gibt den Mönchen am nächsten Morgen seine Antwort:
„Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle, im Himmel regiert die Barmherzigkeit, und auf Erden gibt es das Kreuz!“

Amen.

Seneschall Matthias David