MILCH VON DER KUH
In den 1970er Jahren organisierte die Kirche, dass in den Ferienmonaten hunderte von Kindern aus den Großstädten zur Erholung aufs Land z.B. in die Oberlausitz eingeladen wurden. Mehrere Jahre hindurch kam ich auf den Hof einer christlichen Familie in Wittichenau. Bei meinem ersten Aufenthalt war ich zehn Jahre alt. Das anfängliche Heimweh war bald verflogen, denn bald hatte ich gleich mehrere „Geschwister“ und auf dem Bauernhof gab es für das Großstadtkind viel zu entdecken.
Meine Gasteltern hielten damals keine Kühe mehr. Die Milch holten wir bei den Nachbarn. Dort konnte ich auch zusehen, wie die Nachbarin ihre Kühe mit den Händen melkte. Mir war das nicht geheuer, denn daheim kam die Milch aus dem Kühlschrank. Und wenn keine mehr da war, kaufte man sie im Laden. Anfangs weigerte ich mich daher, Milch von der Kuh zu trinken…
LEBENSMITTELINDUSTRIE
Weit entfernt von landwirtschaftlichen Produktionsverhältnissen sind heute nicht nur Großstadtkinder. Die meisten Menschen erleben keinen direkten Kontakt mehr zur Erzeugung von Lebensmitteln. Viele haben auch kaum eine Vorstellung davon, wie viel Arbeit, Mühe, Fachwissen und Sachkenntnis dazu notwendig ist. Die Lebensmittelproduktion ist eine unüberschaubare Technologie geworden. Wer darin mitarbeiten will, braucht eine gediegene und umfassende Ausbildung. Wir aber bezahlen im Supermarkt den uns vorgegebenen Preis und erhalten dafür, was wir haben wollen.
Erst in der Krise beginnen wir darüber nachzudenken, wo alles herkommt und dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie es im Alltag erlebt wird. In der Krise müssen wir erst lernen, wie wir mit mageren Jahren zurechtkommen, denn in den fetten leben die meisten Menschen gedankenlos dahin.
HOCHKOMPLEXE WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENHÄNGE
Auch in anderen Bereichen haben wir grundlegende Zusammenhänge aus dem Blick verloren. Geld holt man sich vom Bankautomaten. Wie es dort hineinkommt, weiß man bestenfalls vom Fernsehen. Dass es nicht immer fließt, sondern dass der Lohn manchmal nur langsam tröpfelt, und vor allem dass er meist hart erarbeitet werden muss, begreifen Kinder und Jugendliche oft erst sehr spät, manches Mal sogar zu spät…
Die Geldwirtschaft ist zu einer undurchschaubaren Technologie geworden. Der Zusammenhang mit der Wertschöpfung ist vielen aus dem Bewusstsein geraten. In der Krise versuchen viele Politiker an den Stellschrauben dieser Maschine ein wenig herumzuschrauben. Dies wird nicht viel bringen, solange wir nicht zugleich ein Gespür für Geldwert, Leistung und Warenwerte zurückgewinnen.
ERNTEDANK
Im Herbst – so ist es vielerorts Brauch – feiern wir Erntedank. Dieses Fest erinnert uns daran, dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie wir es im Alltag wahrnehmen. Die Milch kommt eben nicht nur aus dem Kühlregal und das Brot nicht nur vom Bäcker. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir ausreichend zu essen haben, unverdorbenes Wasser, gesunde Lebensmittel. Es ist nicht selbstverständlich, dass der Wirtschaftskreislauf funktioniert, dass aus den Bankautomaten Geld kommt, dass Menschen sich anstrengen, forschen und ihr Wissen unmanipuliert weitergeben.
Wir haben Grund, allen dankbar zu sein, die ihre Kräfte und Begabungen in diesen großen Kreislauf einbringen. Und wir ahnen, dass hinter all dem ein geheimnisvoller Geber steht, dem es vor allen anderen zu danken gilt.
Menschen, die näher an der Natur leben oder gar von ihr abhängig sind, werden sich leichter tun, in diesen Dank einzustimmen. Denn sie wissen, dass alles miteinander verknüpft und verflochten ist und dass es letztlich einem Wunder gleichkommt, dass die Natur so Vielfältiges so reichlich hervorbringt.
SOLIDARITÄT
Erntedank ist darüber hinaus Anlass, an all jene zu denken, die aus irgendeinem Grund an diesen Kreisläufen nicht teilhaben können. Etwa weil sie in einem Land oder in einer Gesellschaftsschicht leben, die von unserer modernen Zivilisation abgeschnitten sind, und sie deswegen hungern oder gar verhungern müssen. Die Spielregeln, nach denen Lebensmittel produziert und verteilt werden, sind von Menschen gemacht und sind oft sehr ungerecht. Das darf uns nicht ruhig schlafen lassen.
Erntedank ist auch Anlass, an jene Menschen zu denken, die aus irgendeinem Grund an den Arbeitsprozessen nicht teilnehmen können. Die Gründe dafür sind vielschichtig und nicht einfach zu lösen. Ohne Solidarität werden die Schattenseiten der Erfolgsgeschichte der modernen Weltwirtschaft nicht zu beseitigen sein.
EUCHARISTIE UND TISCHGEBET
Der schönste Dank ist das dankbare Genießen all dessen, was der Schöpfer uns geschenkt hat, und das Miteinander-Teilen. Beides kommt im Brotbrechen zum Ausdruck. Es ist kein Zufall, dass dieses Brotbrechen ein zentraler Ritus unseres Glaubens geworden ist und dass unsere Dankbarkeit dem Schöpfer und den Mitmenschen gegenüber in der Eucharistiefeier den innigsten Ausdruck findet.
Viele gläubige Menschen – nicht nur Christen – bringen ihre Haltung der Dankbarkeit auch im Tischgebet zum Ausdruck. Dieses macht uns die größeren Zusammenhänge, die in der Hektik des Alltag leicht untergehen, immer neu bewusst. Wir tun gut daran, diesen Brauch nicht verkümmern zu lassen.
Ordensgeistlicher Matthias David