(Predigtgedanken zum 27. So. i. Jkr / 16. So. n. Trinitatis, Lk 17:5-10, Hab 1:2-4; 2:2-5, 2 Tim 1:6-14)
DÜSTERE AUSSICHTEN
Habakuk müssen Sie kennenlernen! Den kleinen unbekannter Propheten ohne glanzvollen Namen, der sich aber mächtig ins Zeug legt. Seine Geschichte lässt sich auch nur andeuten. Die Menschen, die er begleitet, ermahnt und tröstet, sind in einer katastrophalen Situation. Die Zukunftsaussichten sind düster, der Blick auf die Vergangenheit ratlos, die Gegenwart nur ein großes Loch. Letztlich tut es nicht einmal etwas zur Sache, was da alles in der kleinen und großen Politik über die Köpfe wächst. Die kleinen Leute zucken mit den Achseln, weil sie eh’ nichts mehr erwarten, die großen reden um den heißen Brei, obwohl die Schüsseln längst leer sind. Was Habakuk beherzt in Worte fasst, wird zu einem Gebet:
„Wie lange, Herr, soll ich noch rufen,
und du hörst nicht?
Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt!
Aber du hilfst nicht.
Warum lässt du mich die Macht des Bösen erleben
und siehst der Unterdrückung zu?
Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung,
erhebt sich Zwietracht und Streit.“
WARUM?
Ist es ein Vorwurf, eine Klage? Nein, dass Gott gar nicht da sein könnte, kommt dem Propheten nicht in den Sinn, aber sein Schweigen tut weh. Er, der doch alles sieht, kennt, ja sogar erleidet, müsste doch Gesicht zeigen, seine Stimme erheben, mit der Faust auf den Tisch hauen. Wie nah, zeitlos die Worte klingen.
Ich denke an eine Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern. Die Diagnose hat sie umgeworfen, ihren Lebensmut gebrochen: Krebs. Sie lässt nichts und niemanden an sich heran. Sie weiß: Alleine wird sie diesen Weg nicht gehen können, auch nicht gehen wollen. Aber jetzt will sie mit sich alleine sein. Und ist es doch nicht. Eine Frage spukt ihr durch den Kopf, will nicht verstummen:
Warum? Warum? Sie könnte schreien. Aber die geschäftige Welt um sie herum würde doch nur weghören, betreten schauen und schnell das Weite suchen.
Vielleicht mit Floskeln, vielleicht auch ohne.
Oder: Eine Familie erzählt. Von ethnischer Säuberung. Ein schreckliches Wort. Weder ist das Wort sauber noch das, was es beschreibt. Aber die Erfahrung verwandelt noch Jahre später Nächte in Alpträume. Die Flucht über die Berge, Peiniger im Nacken und die Angst vor sich. Und Menschen, die zurückblieben.
Nein, nicht nur Menschen. Auch Gräber. Die Gräber der Erschlagenen. Sie hatten nicht die richtige Nation, sprachen nicht die richtige Sprache, glaubten nicht das Richtige. Jetzt sitzen wir im kleinen, zusammen gestückelten Wohnzimmer. Es ist Fremde, nicht Heimat. Die Frage nach dem Warum ist in den Mündern verstummt.
Ungeduldig, zornig, enttäuscht hört sich an, was Habakuk aus sich heraus schreit. Die Samthandschuhe hat er ausgezogen. Ein Beter zieht sie auch nicht an. Muss sie nicht anziehen.
Ob Gott immer die richtige Adresse ist und für alles verantwortlich gemacht werden kann? Habakuk fragt nicht. Es muss einfach heraus, was die Seele bedrückt. Die Sonne verdunkelt. Das Leben zum Grab macht.
AUF EINEM TURM
Habakuk erzählt, wie er auf einen Wachturm steigt. Er steht mitten in der Ebene, sichtbar, markant – wie ein Bollwerk.
„Hier stehe ich auf meiner Warte und stelle mich auf meinen Turm und schaue und sehe zu, was er – Gott – mir sagen und antworten werde auf das, was ich ihm vorgehalten habe. Der HERR aber antwortete mir und sprach: Schreib auf, was du geschaut hast, deutlich auf eine Tafel, dass es lesen könne, wer vorüber läuft! Die Weissagung wird ja noch erfüllt werden zu ihrer Zeit und wird endlich frei an den Tag kommen und nicht trügen. Wenn sie sich auch hinzieht, so harre ihrer; sie wird gewiss kommen und nicht ausbleiben.“
Wenn ich doch nur die Augen von Habakuk hätte! Es muss ein weiter Blick gewesen sein. Von weitem sieht der Wächter jede Bewegung am Horizont. Ihm entgeht nichts. Und mit einer ausgeklügelten Zeichensprache kann er Informationen in Windeseile weitergeben. Aber die wohl wichtigste Entdeckung braucht keine Zeichensprache: Jeden Morgen geht die Sonne auf. Sie lugt über den Horizont und raubt der Nacht die Dunkelheit, raubt ihr die Kälte. Die ganze Ebene wird hell und steht auf. Soll Habakuk das aufschreiben? Das sichtbar ans schwarze Brett hängen? Wissen das nicht ohnehin alle Menschen? Die, die keine Ruhe fanden, aber auch die, die das Licht des Tages fürchten müssen?
AUGEN, DIE HÖREN
Habakuk auf seinem Wachturm. Ein schönes Bild. Menschen brauchen Menschen, die stellvertretend für andere, die Sonne aufgehen sehen – und von diesem Licht erzählen.
Dabei geht für Habakuk nicht einfach die Sonne auf – sie wird auf ihren Lauf geschickt. Darum spricht der Prophet davon, nach dem auszuschauen, was Gott sagen wird! Er hört mit den Augen! Und was uns so merkwürdig, ja unmöglich scheint, geht selbst wie eine Sonne auf! Gott spricht und die Menschen bekommen etwas zu sehen, es geht ihnen etwas auf. Er, der die Sonne auf ihre Bahn schickt, macht das Leben hell.
Die Frau, von der ich vorhin erzählte, wurde mutig. Sie wollte nicht in ihrem Loch bleiben. Sie fing an zu reden. Erst ganz behutsam, die Kinder auf dem Schoß.
Dann immer offener. Wer ihr mit Floskeln kam – Kopf hoch, es wird schon wieder – wurde still. Aber viele Menschen fingen ihrerseits an zu reden. Offen, befreiend. Es war, als ob die Krankheit Türen öffnete – und was keiner erwartete, geschah: Der Tod hatte mitten im Leben sein letztes Wort abgeben müssen.
Oder: Die Familie mit den traumatischen Erlebnissen suchte die Begegnung, das Gespräch. Erst mit anderen Betroffenen, dann aber – die Leute trauten ihren Augen nicht – mit denen, die auf der anderen Seite waren. Menschen aus der Gruppe der Täter. Ob von Schuld die Rede war? Von den Verhängnissen unseliger Zeit? Von den Verführungen der Macht? Schon der kleine Versuch, Brücken zu bauen, musste sich der Verdächtigungen erwehren. Hass hat einen langen Atem. Es ist ein Geschenk zu sehen, wie er kurzatmig wird.
Augen, die hören! Es liegt Achtsamkeit in diesem Bild. Und das Vertrauen, dass sich Sinne nicht täuschen. Ja, das gelegentlich alle Sinne zusammenklingen.
RUHE IN SEINEM HERZEN
Habakuk soll aufschreiben, was er sieht. Ist es ein kleiner Zettel? Ein großer?
Was ist denn überhaupt mitteilenswert? Habakuk hat wohl unten an die Tür des Turmes geschrieben, dass Gott selbst kommt. Und dass er ihn schon gesehen hat. Mutig, sehr mutig. Denn jetzt kann kein Mensch mehr sagen, „man könne nichts machen“. Und keinem Menschen muss die Macht zugestanden werden, Angst zu machen. Von oben wird die Welt anders – gesehen, auch anders wahr.
Habakuk ist ein kleines Licht unter den Propheten, aber sein Turm lädt ein, mit ihm eine weite Sicht zu gewinnen. Sein Turm könnte sogar sprichwörtlich werden: Warst du heute schon auf dem Turm?
Was es zu entdecken gibt:
„Siehe, wer halsstarrig ist, der wird keine Ruhe in seinem Herzen haben, der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben.“
Seneschall Matthias David