(Predigtgedanken z. 25. So. i. Jahreskreis / 16. So. n. Trinitatis – Mt 20:1 – 16a)
Die Erzählung von den Arbeitern im Weinberg, die am Ende alle den gleichen Lohn bekommen, lässt sich nach unseren Vorstellungen von gerechtem Lohn nicht auflösen. Jesus entwirft eine Vision vom Himmelreich, in dem andere Regeln herrschen.
IM STUNDENTAKT
Früh am Morgen gehen die Ersten in den Weinberg. 6 Uhr in der Früh. Es wird ein harter, langer Tag. Mittagshitze eingeschlossen. Am Abend sind die Gaumen trocken, die Hände tun weh. Dann das! Gleicher Lohn für alle! Es lässt sich nicht verheimlichen: Sozusagen im Dreistundentakt trudeln die Neuen ein. Um 9 Uhr, 12 Uhr, 15 Uhr – und tatsächlich auch noch um 17 Uhr. Eine Stunde, bevor der Tag zu Ende geht. Lakonisch heißt es nur:
Als es nun Abend geworden war,
sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter:
Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus,
angefangen bei den Letzten, bis hin zu den Ersten!
Wie fühlen sie sich jetzt? Sie kennen die Geschichte? Und lieben Sie sie? Sollen wir mal Arbeitgeber und Gewerkschafter fragen? Die Zeitung auf die Spur bringen? „Dicke Luft im Weinberg“ darüber schreiben?
Das Thema ist virulent. Die Stichworte verlaufen wie Farben auf dem Papier: gerechter Lohn, Mindestlohn, Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfe, Schere zwischen Arm und Reich und und und… Als hätte es die Zeitung in dieser Woche geahnt, gut platziert mit der Schlagzeile:
„Lohnunterschiede: Was heißt hier gerecht?“ Und das Bild dazu, plakativ: „Ich bin mehr wert.“ (FAZ 14.09.2020). Auch wenn wir jetzt nicht diskutieren können: die Geschichte, die in einem Weinberg spielt, bringt uns auf neue Gedanken. Verträgt Gerechtigkeit Barmherzigkeit? Kann Barmherzigkeit gerecht sein?
DIE OFFENBARUNG AM ABEND
Mit großen Worten können wir Menschen nicht gut leben. Aber mit Geschichten! Die Geschichte heute spielt auf einem Markt, auf einem Arbeitsmarkt. Hier gibt es ein Angebot – und hier gibt es eine Nachfrage. Hier versammeln sich schon in der Früh Menschen, um angeheuert zu werden. Wer Glück hat, findet sofort einen Job – wer Pech, geht leer aus. Jeden Tag das gleiche Spiel. Jeden Tag die Unsicherheit. Jeden Tag die Sorge um das tägliche Brot. Die Menschen, von denen Jesus erzählt, stehen den ganzen Tag bereit. Gespannt und voller Hoffnung. Neugierig und geduldig. Trotzig und unbeirrt. Jetzt, jetzt muss es doch Arbeit für mich geben! Die Männer denken an ihre Frauen und Kinder. Wie lange reicht ein Tageslohn? Bis morgen, übermorgen, überübermorgen? Was ist, wenn ältere oder nicht mehr so gesunde Menschen überhaupt keine Chance bekommen? Sie bieten sich auf dem Markt an, als wären sie eine Ware – aber der Markt kennt weder Gerechtigkeit noch Barmherzigkeit. Hier hausen die Sehnsucht, die Hoffnung, aber auch die Sorge, die Angst, die Enttäuschung. So viel Zeit zum Nachdenken, zum Fluchen und zur Lethargie! Die Mittagshitze ist schrecklich.
Einzelschicksale, Namen und Familiengeschichten kennen wir nicht – oder doch? Wenn vielleicht auch anders, moderner? Dann die Offenbarung am Abend: Die, die noch vor Toresschluss in den Weinberg kamen, bekommen einen vollen Lohn. Sogar als Erste! Jetzt gibt es nur noch große Augen. Neid und Wut blinzeln auf. Auflösen lassen sich die vielen Geschichten am Abend nicht. Gibt’ s ein Geheimnis, das wir nicht kennen? Aber kennen sollten?
HIMMELREICH AM TAG
Im Vorspann zu dieser abenteuerlichen Geschichte ist von einem Gleichnis die Rede, von einem Gleichnis für das Himmelreich, für das Reich Gottes, für die neue Welt Gottes. Aber: das Gleichnis spielt in einem Weinberg! Wer die alten Geschichten kennt, weiß, dass der Weinberg als eine wunderschöne Pflanzung Gottes gilt. Liebevoll legt er ihn an – mit Brunnen, Mauern und Wegen. Es gibt dazu sogar ein Lied – das Weinberglied. Wollen Sie es nachlesen? Jesaja 5!
Die Geschichte, die Jesus erzählt, um die Welt Gottes auch als Maßstab vorzustellen, als Bild einer Zukunft für alle Menschen, leuchtet in einer Frage auf: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig? Wie verliert ihr euer Leben? Wie vertut ihr euer Leben?
Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben.
Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg!
In der 11. Stunde – so heißt es im Evangelium – finden Menschen noch ihren Weg, gehen Hoffnungen in Erfüllung, ist das Warten nicht umsonst. Sie werden aufgenommen. Sie werden gebraucht. Warum der Weinbergbesitzer sie nicht gleich in Arbeit und Brot gesteckt hat? Das ist sein Geheimnis – um alle unsere Werte noch einmal neu zu besehen und abzuwägen? Mitten in der Frage nach Gerechtigkeit leuchtet die nach Barmherzigkeit auf. Dass Jesus in einem Gleichnis vom Himmelreich zählt und rechnet, war von Anfang an nicht zu erwarten. Und das ist befreiend – ein Lichtblick. Ein Lichtblick in einer Welt, die mit Gerechtigkeit kämpft und ständig neue Ungerechtigkeiten schafft.
STUNDE UM STUNDE
Es ist ganz schön beschwerlich, die vielen Aspekte unter einen Hut zu bekommen. Ich ertappe mich dabei, mich auf die Seite der Gerechtigkeit zu schlagen – auch im Blick auf Menschen, die nicht gerecht behandelt werden. Die Frage nach gerechten Löhnen, überhaupt nach gerechten Arbeitsbedingungen, ist unübersichtlich, heftig umstritten, ständig in Zerreißproben. Die Kirche hängt da mitten drin. Ich sehe das Bild aus der Zeitung vor mir: „Ich bin mehr wert.“
Für viele Menschen wacht am Morgen die Sorge mit ihnen auf. Schon wieder ist sie da. Am Abend geht sie mit ihnen schlafen. Jesus erzählt in seinem Gleichnis zwar eine Geschichte, die uns fremdartig, vielleicht sogar befremdlich, erscheint, aber sie bringt die Barmherzigkeit ins Spiel und öffnet der Gerechtigkeit neue Seiten. Ich sehe wieder das Bild aus der Zeitung: „Ich bin mehr wert.“
Die Barmherzigkeit wächst im Dreistundentakt: um 6, um 9, um 12, um 15, um 17 Uhr. Sie wächst über den ganzen Tag und offenbart sich am Abend.
Gelesen haben wir das auch:
Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken
und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des Herrn.
So hoch der Himmel über der Erde ist,
so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege
und meine Gedanken über eure Gedanken.
Das überrascht mich heute schon!
Seneschall Matthias David