ICH HABE EINEN TRAUM…
„I have a dream…“ hat Martin Luther King jr. 1963 zweihundertfünfigtausend Anhängern der Bürgerrechtsbewegung in Washington zugerufen. Das besondere dieser historischen Rede: Dieser Traum hat viel bewegt und die Vereinigten Staaten und die ganze Welt verändert. Ein anderer großer Träumer und Visionär war Mahatma Gandhi.
„Wenn einer träumt, bleibt es ein Traum. Träumen wir aber alle gemeinsam, wird es Wirklichkeit“ lautet eine Dom Helder Camara zugeschriebene und oft zitierte Spruchweisheit.
In der Seelsorge begegnen mir immer wieder unermüdliche Träumer und dazu passende schöne Texte. Die einen träumen von einer erneuerten Kirche, die anderen von einer neuen Gesellschaft usw. Ob ein Traum etwas bewirkt oder nur Traum bleibt, hängt aber davon ab, wie der/die TräumerIn mit dem Inhalt des Traumes nach dem Aufwachen umgeht. Viele Kirchenträume bringen es nicht weiter als zu Kuschelgruppen.
Oft wird übersehen, was einem bedeutsamen Traum vorausgeht. Meist ist es ein gehöriges Maß an Leidensdruck. Und ein Traum kann dann auf einen kreativen Ausweg aus dieser Situation hinweisen. Danach bedarf es aber eines beherzten ersten Schrittes, den angezeigten Weg auch zu gehen, und schließlich Ausdauer, den Weg auch durchzuhalten.
Wer keine Träume hat, wem es an Visionen mangelt, die einen Weg in die Zukunft anzeigen, ist aber noch schlechter dran.
DER BEGINN EINER NEUEN WIRKLICHKEIT
Im Evangelium des 2. Fastensonntags geht es auch um ein visionäres Ereignis. Dieses findet unmittelbar nach einer Auseinandersetzung Jesu mit seinen Jüngern statt. Auf dem Weg nach Jerusalem versucht Jesus seinen Jüngern beizubringen, wie er seine und ihre Zukunft sieht: Der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen… (Mk 8,31). Petrus will dies verhindern und wird von Jesus mit harten Worten zurechtgewiesen: Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. (Mk 8,33).
Sechs Tage danach ereignet sich, was wir heute im Evangelium gehört haben. Jesus wird vor den Augen einiger ausgewählter Jünger – Petrus gehört dazu – verwandelt; seine Kleider wurden strahlend weiß… Und Jesus redet mit Elija und Mose. Die Jünger sind glücklich darüber und möchten gleich hier bleiben. Jesus führt sie aber wieder zurück in die Niederungen seines und ihres Lebens, zurück auf den Weg nach Jerusalem.
DER BLICK AUF DAS GANZE
Und wozu war dieses Erlebnis auf dem Berggipfel gut? Wem nützte es? – Die Bedeutung dieses Ereignisses erhellt sich erst, wenn wir es im Gesamtzusammenhang des Lebensweges Jesu sehen. Es hat Ähnlichkeit mit dem, was rund um die Taufe Jesu im Jordan geschehen ist. Auch dort war eine Stimme aus dem Himmel zu hören. Während sie am Jordan zu Jesus sagte: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“, spricht sie nun zu allen Anwesenden: „Dieser ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.“
Dieses Ereignis auf dem Berg ist eine Fortsetzung der Tauferzählung. Es setzt ein Gegengewicht zur Vorahnung des Leidensweges. Der Blick auf das Ganze, auf den großen Zusammenhang der Heilsgeschichte erst gibt dem Leiden, dem die Jünger zunächst ausweichen wollen, erst Sinn und Berechtigung. Jesus wird dadurch bestärkt, den Weg durch Leiden und Tod hindurch anzunehmen und weiter zu gehen. Die Jünger sind überfordert. Sie sehen noch nicht den großen Zusammenhang, sie bleiben am Erlebnis hängen und möchten es festhalten.
KRAFT FÜR UNSEREN LEBENSWEG
Was können wir so viele Jahre später diesem Ereignis noch abgewinnen? Hat es für uns mehr als eine historische Bedeutung?
Zunächst hilft uns diese Erzählung zu verstehen, was damals zu Ostern passierte. Die Jünger konnten erst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu erst langsam begreifen, dass dies so kommen „musste“. Erst danach ist ihnen der Sinn des Leidensweges Jesu aufgegangen.
Darüber hinaus ist aber jeder Getaufte selbst auf einem Weg, der ihn durch den Tod hindurch zu einem neuen und umfassenderen Leben führt. Auch wir sind Weizenkörner, die in die Erde fallen und das Sterben annehmen müssen, damit unser Leben Frucht bringt. Wir sterben zwar nicht denselben Tod wie Jesus, wir stehen aber wie er vor der Herausforderung, unser Lebens an Gott und die Menschen hinzugeben; ein jeder in seiner eigenen Weise. Ohne den Blick auf das Ganze hat ein Sterben für einander keinen Sinn, und wir werden auch nicht die Kraft dazu haben.
VOM BERG HERAB IN DIE TAGTÄGLICHE WIRKLICHKEIT
Das Beispiel der Verklärungserzählung kann uns aber auch Kraft geben für unsere Visionen hinsichtlich eines neuen Himmels und einer neuen Erde, hinsichtlich einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kirche.
Ich erlebe die gegenwärtigen politischen Diskussionen als höchst sonderbar. Im Durchschnitt geht es des Menschen bei uns in Europa und wohl auch darüber hinaus so gut wie noch nie zuvor, und dennoch können wir uns kaum einigen, wie wir das Erreichte in Zukunft einigermaßen gerecht miteinander teilen können. Es ist nicht nur die Gier und der Egoismus einiger weniger, die eine friedliche und gerechtere Zukunft gefährden. Fast jeder wehrt sich gegen ein Gürtel-enger-schnallen. Und anfangen sollen die anderen.
Im Blick auf das Ganze schöpfe ich aber auch Kraft für die gegenwärtig schwierige Zeit in unserer Kirche. Träume und Visionen sind gut und hilfreich, wenn wir auch daran gehen, sie zu leben und zu verwirklichen. Wo zwei oder drei im Namen Jesu zusammen sind, ereignet sich Reich Gottes. Das Reich Gottes ist hier und jetzt. Sieh dich um, es gibt genug Menschen, die diese Vision mit dir teilen!
Ich will nicht warten, bis andere damit anfangen, bessere Bedingungen für kirchliches Leben zu schaffen. Immer wieder begegnen mir Menschen, die trotz aller Enttäuschungen und Kränkungen, die sie im kirchlichen Leben erfahren haben, das tun, was sie tun können. Ich will aufstehen und weitergehen im Vertrauen, dass Gott auch uns Wasser, Manna und Wachteln schicken wird, wenn wir es brauchen.
Ordensgeistlicher Matthias David