LEBEN IN ERWARTUNG

Predigtgedanken zum 4. Advent

Die Geschichte spielt kurz nach dem Krieg – in einer der zerbombten Städte in Deutschland. Noch ist der Schutt der zerstörten Häuser nicht beiseite geräumt. Aber die Züge fahren schon wieder.
Da geht ein alter Mann durch die dunklen Straßen in Richtung Bahnhof. An jedem Freitag tut er das. Die Menschen der Stadt kennen ihn schon, den Alten. Sie kennen seine Aufgeregtheit, seinen erwartungsvollen Blick. Sie wissen, dass der, den der Alte erwartet, auch dieses Mal nicht unter den Ankommenden sein wird.

Wen erwartet er überhaupt? Einen Bruder, eine Schwester, die der Krieg von seiner Seite gerissen hat? Oder einen anderen Verwandten, der vielleicht überlebt hat? Oder gar den, der alle Erwartung erfüllt, den Messias, den Christus? Wie in jeder Nacht, so läuft auch in dieser Nacht Zug um Zug ein. Als sich gegen Mitternacht die Bahnsteige leeren, da steht für den Alten wieder einmal fest: Auch diesmal war er nicht dabei. Aber er beschließt: Am Freitag wird er wiederkommen – mit neuer Geduld, mit neuer Hoffnung. Und mit diesem Gedanken geht der Alte zurück, zurück durch die dunklen Straßen, dorthin, wo er hergekommen ist.

Ich bin mir nicht so sicher: Ist das eigentlich eine traurige Geschichte, weil sie uns von den ständig enttäuschten Erwartungen eines Menschen erzählt? Oder ist es eher eine Geschichte, die Mut macht, weil sie davon berichtet, welche Kraft in der Hoffnung steckt, die einen Menschen immer wieder auf die Beine bringt?
Auf jeden Fall aber ist es eine gute Adventsgeschichte. Denn Advent heißt ja: in Erwartung leben. In der Erwartung, dass das, was ist, noch nicht alles ist. Dass vieles in unserem Leben nur eine Andeutung ist von der Erfüllung, die noch kommt. Woher wissen wir aber, dass wir nicht die falschen Erwartungen pflegen? Dass wir nicht am falschen Bahnsteig warten oder am falschen Gleis?

Advent feiern heißt darum, nicht nur der Zukunft zugewandt sein, sondern auch der Vergangenheit. Nicht nur nach vorne zu sehen und nach vorne zu gehen, sondern zu wissen: Gott ist längst angekommen. Seine Spur zieht sich durch die Geschichte der Menschheit und, wenn wir die Augen öffnen, auch durch unser Leben. Im Advent kommt also beides zusammen, Zukunft und Herkunft. Gott hat die große Distanz zwischen Himmel und Erde überbrückt und ist Mensch geworden. Das ist die Herkunft des Advent. Mit diesem Advent im Rücken, mit der Gewissheit, dass Gott angekommen ist auf einem winzigen Fleckchen Erde, in einem Stall, mit dieser Gewissheit warten wir darauf, dass Gott kommt – auch heute.

Übrigens, der Alte wird auch am kommenden Freitag wieder zum Bahnhof gehen, wird warten und warten, wird vergeblich warten und wieder heimgehen. Aber das Warten macht ihn lebendig, hält ihn am Leben, und wieder wird er gehen und warten bis, ja, bis der heißersehnte Besucher da ist.

Klaus Nagorni in: Erich Esslinger (Hrsg.), Geöffneter Himmel. Gedanken, Grüße und Geschichten zur Weihnachtszeit, Konrad Triltsch, Würzburg 1999, S.47f

Seneschall Matthias David