O HEILAND REISS DIE HIMMEL AUF!

(Predigtgedanken zum 1. Advent Mk 13:24-37 / Jes 63:16-19 / Jes 64: 3-7)

AUFREISSEN

Leidenschaftlich, flehentlich hören wir Jesaja rufen: „Reiß doch den Himmel auf, und komm herab, so dass die Berge zittern vor dir.“ Wie fern, wie unnahbar muss der Himmel wohl sein! Die Menschen, die den Propheten hören, können mit dem Kopf nicken, ohne viel sagen zu müssen. Für sie ist der Himmel verschlossen. So verschlossen wie ihr Leben, wie ihr Geschick. Gebeutelt von der großen Geschichte, wehrlos Entwicklungen ausgesetzt, zwischen Lethargie und Resignation schwankend – so klein ist Gottes Volk gemacht. Klein mit Hut. „Reiß doch den Himmel auf, und komm herab, so dass die Berge zittern vor dir“. Ein tolles Bild! Wenn sogar die Berge zittern, die doch erhaben sind und nicht verrückt werden können – dann haben auch Unterdrückung und Angst keine Chance mehr. Es gibt noch Hoffnung! Es gibt wieder Hoffnung!

Ich erzähle zwar von gestern, aber die Erfahrung, dass der Himmel verschlossen ist, dass das Leben verschlossen ist, dass die Zukunft verschlossen ist – wer wüsste nicht, was angedeutet, offen gesagt, still verschwiegen oder laut geklagt wird.

AM 1. ADVENT SINGEN WIR:

O Heiland, reiß die Himmel auf,
Herab, herab, vom Himmel lauf!
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!

Friedrich Spee hat das Lied 1622 geschrieben. Der 30jährige Krieg hatte gerade angefangen. Gefragt wurden die Menschen nicht – sie wurden überrollt. Während die damaligen Mächte sich hinter der Religion verschanzten und Politik auf eigene Rechnung machten. Die meisten durchschauten das nicht einmal. Wie viele Menschen wohl im Namen der Wahrheit um Haus und Hof, um Familie und Leben gebracht wurden? 1666 hat das Lied auch die Melodie bekommen, die wir bis heute singen. Ein flehentliches Lied, ein leidenschaftliches Lied. Wir dürfen es nicht gemächlich singen – von „Reißen“ ist die Rede und von „Laufen“, von einem offenen Himmel und von gebrochenen Schlössern. Herab, herab!

EIN NEUER ANFANG

Ich weiß, dass es manchen nicht gefällt, am 1. Advent mit Gedanken konfrontiert zu werden, die den angeblichen Frieden dieser Zeit stören. Immer nur das Bedrohliche, Abweisende, Gefährliche – wir möchten aussteigen, zur Ruhe kommen, schöne Tage genießen. Die Weihnachtsmärkte sind darum mehr als Märkte – sie werden, selbst in der überlaufenden Form, zu Treffpunkten, zu Refugien, zu Inseln. Seit alters her wird im Advent eine große Sehnsucht laut: Die Sehnsucht nach einem neuen Anfang. Wir brauchen in unserem Leben Zeiten, die sich abschließen lassen. Die an ein Ende kommen. Die – wenigstens symbolisch – überwunden werden. Wie die dunkle Jahreszeit, wie der November, wie der Totenmonat.

Natürlich bleibt eigentlich alles beim Alten, aber das Alte bekommt auf einmal neue Seiten. Wir empfinden uns anders, die Dinge erstrahlen in neuem Licht, uns wachsen Spielräume zu, mit denen wir nicht einmal im Traum rechneten. In unseren Erfahrungen ist die Zuversicht verwurzelt, dass nicht einfach alles so weitergeht – es gibt neue Entdeckungen und einen neuen Anfang. So finden wir uns heute in der großen Hoffnungsgeschichte wieder: Gott soll neu mit uns anfangen. Keine Schuld soll zum Verhängnis werden, kein Ressentiment die Herzen beschweren, keine Angst die Schritte lähmen. Hören Sie auch den Propheten rufen: Herab! Herab!

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all‘ ihr‘ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hie im Jammertal.

So hört sich das bei Friedrich Spee an. Und wir übernehmen die Worte, die Hoffnung, den Traum – und singen von einer neuen Welt.

WACHSAM SEIN

Jesaja hat leidenschaftlich von Gott eine Wendung erfleht – und erwartet. Gott kann den Himmel aufreißen. Gott wird den Himmel aufreißen. Haben Sie schon einmal bedacht, was in diesem Bild steckt? Ein zerrissener Himmel gibt Gott frei, nimmt ihm jede Rückzugsmöglichkeit, gewährt uns einen Blick in das Allerheiligste. Ein zerrissener Himmel ist auf einmal offen, wird zum Schlupfloch, wenn ich die Erde nicht mehr aushalte – und birgt die Menschen, die ich liebe. Ich möchte das Bild ausmalen, ich möchte das Bild besingen. Aber mir fehlen die Farben, mir fehlen die Worte. Doch der Prophet hat eine Spur gelegt – ich lasse sie nicht mehr aus den Augen.

O klare Sonn‘, du schöner Stern,
Dich wollten wir anschauen gern.
O Sonn‘, geh auf, ohn‘ deinen Schein
In Finsternis wir alle sein.

So singen wir das heute. In der Finsternis, die wir beschreiben können. Oder für die uns die Worte fehlen. Aber dann sehen wir eine Sonne aufgehen. Sie wird gar als schöner Stern gezeichnet. Der sternenklare Nachthimmel wird zu einem hellen Licht. Aus der Nacht wird – Tag.

Jetzt bekommt auch Jesu Wort einen unnachahmlichen Klang: Seid wachsam! Wir können auch sagen: seid auf der Hut! Oder: passt auf! Oder: lasst euch nicht ablenken!
In Jesu Wort wird ganz klar, dass Gott kommt – dass ich keinen Termin bekomme, heißt doch auch, dass ich immer an ihn denke, mich ihm öffne, in ihn wertschätze. Ein Terminkalender ist etwas für Leute, die sich einen Abstand leisten können. Gott leistet sich keinen Abstand.

Wer wachsam ist, wird viele Klagelieder hören, aber auch Hoffnungsschimmer sehen;
wer auf der Hut ist, kann nicht von der Dunkelheit eingeholt werden, wird aber die aufgehende Sonne vor sich haben,
wer aufpasst, gerät nicht in den Bann der Schrecken, findet aber einen Weg ins Freie.

Am ersten Advent hören wir den leidenschaftlichen Ruf: „Reiß doch den Himmel auf, und komm herab, so dass die Berge zittern vor dir.“ Aber dann hören wir die Antwort: „Seht euch also vor, und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ Dem flehentlichen Ruf entspricht unsere Bereitschaft, ihn im Empfang zu nehmen.

Hie leiden wir die größte Not,
Vor Augen steht der ewig‘ Tod;
Ach komm, führ uns mit starker Hand
Vom Elend zu dem Vaterland.

Amen.

Seneschall Matthias David