(Predigtgedanken zum 5. Fastensonntag Joh 11 . 1 – 45)
OFT IST DAS NEBENSÄCHLICHE DIE HAUPTSACHE
Vielleicht kennen Sie das auch: Sie sind eingeladen und bringen Blumen mit. Doch als Sie den Blumenstrauß übergeben, sagt die Dame des Hauses zu Ihnen: „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen…!“ Ist es nicht so, dass oft genau das, von dem wir sagen, eigentlich nicht nötig, gerade jenes ist, von dem wir in unseren Begegnungen leben? Da sagen Menschen, wenn sie zusammenkommen zueinander: Wie geht es dir? Oder: Wie geht es Ihnen? Für manche eine zeitraubende Höflichkeitsfloskel, eine Nebensächlichkeit, weil wir in Gedanken oft schon bei den Themen sind, die es zu besprechen gilt. Deshalb eigentlich auch nicht nötig. Dieses: „Wie geht‘ s?“ – Und doch immer wieder auch eine starke Brücke, mit der wir einander zeigen, dass es uns um mehr geht, als das was, was gerade auf der Tagesordnung steht, weil uns der andere Mensch wichtig ist. Seien wir ehrlich! Gilt nicht auch hier: Das Nebensächliche ist die Hauptsache, weil wir davon leben?
Im Evangelium von der Auferweckung des Lazarus sind wir schnell dabei, uns in unserer Phantasie auszumalen, wie Jesus vor der Grabhöhle steht, umgeben von einer großen Schar Schaulustiger Wir stellen uns vor, wie die Menschen mit großen Anstrengungen den Verschluss-Stein vom Eingang des Grabes wegrollen, wie Jesus im Gebet die Augen zum Himmel richtet und irgendwann mit lauter Stimme ruft: Lazarus, komm heraus! Und er kommt heraus. Wie es damals üblich war, in Leinenbinden und Tücher eingewickelt, nicht mehr wiederzuerkennen, wie ein Gespenst, aber lebendig. Das ist die Hauptsache, an der wir schnell hängen bleiben. Doch das Evangelium kennt auch Nebensächlichkeiten, die nicht weniger wichtig sind als das Wunder selbst.
BEDINGUNGSLOSES BITTEN
Maria sagt: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ Ein Nebensatz, der im Schatten des Wunders steht. Und doch sind uns diese „Wenn-Dann-Sätze“, sehr vertraut, weil sie bei uns oft zur Hauptsache werden. Ich kenne Menschen, die von solchen Sätzen in ihrem Gebetsleben und damit in ihrer Beziehung zu Gott seit Kindertagen geprägt – und im Glauben nicht weiter gewachsen sind. In unserem Denken machen wir damit Gott verantwortlich für das, was uns nicht möglich ist. Wir stellen Bedingungen an Gott und sprechen: Wenn du mir hilfst, heil aus dieser Situation herauszukommen, dann… Und oft ist nicht einmal mehr von Bedingungen die Rede, wenn wir heute noch beten, wie wir es einst als Kinder taten: Lieber Gott, mach dass…!
Doch wer ist in solchen Haltungen dann noch Gott für uns und was ist der Mensch vor Gott? Gott wird zum „Automat“ des Menschen, der auf „Gebets-Knopfdruck“ die Wünsche des Menschen erfüllt. Und was wird aus dem Menschen? Dem geht es dabei auch nicht besser! Er verliert seine Freiheit, seine ihm von Gott gegebene menschliche Natur und nicht zuletzt auch seine ihm auf den ersten Seiten der Bibel gegebene Verantwortung für die Gestaltung der Welt und seine Würde.
Wie viel Leid kam und kommt bis heute in diese Welt, weil wir für vieles, das ist – aber auch nicht ist – Gott verantwortlich machen und nicht selbst Verantwortung übernehmen. Wir sprechen lieber wie Maria im Evangelium: „Herr, wärest du hier gewesen, dann…“
DER VERWUNDETE ARZT
Das Evangelium erzählt uns noch eine weitere – scheinbare – Nebensache. „Als Jesus sah wie sie“ – Maria – „weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war Jesus im Innersten erregt und erschüttert (…) Da weinte Jesus. Die Juden sagten, seht wie lieb er ihn hatte!“ – Es gibt in der ganzen Bibel keine andere Stelle, die davon erzählt, dass Jesus weint. So sehr ist der Gottessohn Mensch wie wir; Jesus leidet mit Martha und Maria am Tod des Freundes Lazarus. „Jesus ist nach Johannes gerade als der Verwundete die Quelle des Lebens für uns Menschen geworden. (…) Auch wir werden nur dann zur Quelle des Lebens für andere werden (…) wenn wir uns wie Jesus verwunden lassen. Der verwundete Arzt war für die Griechen ein wichtiges Bild. Nur der verwundete Arzt, so meinten sie, kann heilen. Nur der, der sich den eigenen Wunden stellt, ist auch fähig, die Wunden anderer zu verstehen und zu heilen. Nicht durch unser Wissen helfen wir den Ratsuchenden, sondern indem wir sie in die eigene Wunde eintreten lassen wie Jesus …“ (Anselm Grün)
Das ist der schmerzhafte, aber heilsame Weg, den die Kirche in der Aufarbeitung der Krise in diesen Tagen geht, indem sie sich den eigenen Wunden stellt. Sie ist nicht mehr die mächtige Kirche von einst, sondern eine Kirche, die Wunden trägt. Eine Kirche, die nicht mehr vor den Menschen hergeht, sondern die im wahrsten Sinne des Wortes „sym-pathisch“ d.h. mit-leidend ist, weil sie auf der Seite der Menschen steht und herausgefordert ist, in Demut mit den Menschen zusammen hinzufinden zu dem neuen Leben, das sie in ihrer Botschaft verkündet.
DIENENDE KIRCHE
Wissen wir noch, was das alte Wort „Demut“ heißt? Die lateinische Sprache kann uns helfen, es von der Last unserer Vorurteile zu befreien. Humilitas heißt es da. Ahnen Sie, was für ein Wort da mit drinsteckt? Im Humilitas ist Humus drin. Die Erde, der Boden, manchmal auch der Dreck, der an uns haftet. Aber immer auch der Grund, auf dem wir alle stehen. Demut im Sinne von Humilitas ist unsere Erdverbundenheit und hängt zusammen mit der Frage nach dem, was uns trägt. Zu dieser Demut gehört die Vision einer den Menschen dienenden Kirche. Doch manche sehen vor lauter Dreck die Erde und damit den Boden nicht mehr, auf dem wir alle stehen. Deshalb muss immer wieder daran erinnert werden: „Die Kirchen haben den Beweis angetreten, dass sie verlässlich und kompetent an der Seite der Menschen stehen. Sie helfen den Menschen, in Würde zu leben und auch in Würde zu sterben. In Hunderten Einrichtungen der Caritas finden Menschen in Not die Erfahrung der Solidarität und menschlicher Nähe (…) besonders von den Ehrenamtlichen, die zehntausende Stunden zur Unterstützung unserer Gemeinden und Verbände aufbringen.“ (Erzbischof Dr. Robert Zollitsch)
Doch es geht hier nicht nur um das, was die Menschen tun, auch wenn viele vom Einsatz der Ehrenamtlichen in unseren Gemeinden Wunder erwarten. Der Evangelist Johannes zeigt all denen, die auf Wunder hoffen einen anderen Weg. Johannes wird nicht müde, von Maria und Martha zu erzählen, vom Mitleiden, von den Vorwürfen und den Fragen der beiden Frauen, die – wie so viele Menschen in unserer Kirche – zwar vieles nicht verstehen können, aber trotzdem alles tun, was in ihren Kräften steht. Vor dem Wunder neuen Lebens stehen bei Johannes die innere Erregung, die Erschütterung und die Tränen von Jesus als Ausdruck seiner Liebe zu Lazarus. Das ist keine Nebensache. Denn diese Liebe überwindet das Dunkel der Hoffnungslosigkeit und führt zum Licht neuen Lebens. Amen.
Seneschall Matthias David