UM DIE ZUKUNFT UND DAS LEBEN KÄMPFEN

(Predigtgedanken z. 29. So. i. Jkr. / 18. So. n.Trinitatis; Lk 18:1-8; Ex 17:8-13; 2. Tim 3:14-4:1-2)

DIE LEIDENSCHAFT EINER EINFACHEN FRAU

Er sah sie am liebsten nur von hinten – wenn überhaupt. “Zänkisches Weib” nannte er sie, “Hexe”, “Ziege”, „Mistvieh“. Aber sie war hartnäckig. Ständig stand sie vor seiner Tür.

Sie lauerte ihm auf, lief ihm hinterher, ließ ihn nicht aus den Augen. Nachts erschien sie ihm sogar im Traum. Manchmal glaubte er schon, Gespenster zu sehen. Stand er vor dem Spiegel, sah er den Richter vor sich. Aber es war ihm unheimlich. Was für ein Richter! Du fürchtest weder Gott noch Menschen, sagte er sich – aber dieses Weib! Soll sie doch haben, was sie will.

Respekt, Respekt! Vor einer Witwe zu kapitulieren, das hat etwas. Denn diese Frau hat nichts, womit sie punkten könnte: Kein Geld, keine Macht, keine Seilschaft. Aber sie hat etwas anderes: Sie hat recht. Ganz einfach: Sie hat recht!

Ihr Fall? Schade, Lukas erzählt nichts, was meine Neugierde befriedigen könnte.

Aber was er erzählt, strahlt Elan und Leidenschaft aus. Die Leidenschaft einer einfachen Frau, sich ihr Recht nicht nehmen zu lassen. Wer hier der Stärkere ist und wer der Schwächere – für den Evangelisten keine Frage. Schnell, in wenigen Zügen, ist der Richter bloßgestellt, Schach matt. Klar, wem hier die Sympathie zuwächst: der Witwe. Und das einzige, das zu erzählen lohnt, ist ihre Beharrlichkeit.

BEHARRLICH BETEN, DRAN BLEIBEN, NICHT KLEIN BEIGEBEN

Ich merke, wie die Geschichte gut tut. Eine Frau, wehrlos, mittellos, vom Leben um ihre Zukunft betrogen – begehrt auf. Beginnt einen schier aussichtslosen Kampf.

Immerhin gegen einen Gegner, der genug Macht und Geld hat, um sich über alles hinwegzusetzen. Selbst über das Recht, das er doch bewahren und schützen soll.

Gegensätzlicher könnten die Figuren nicht sein, die aufeinander prallen. Aber Macht und Geld schützen den Richter nicht – weder vor der Frau, noch vor dem Recht, das sie einfordert. Der berühmte Wind der Freiheit weht durch diese Geschichte. Wer Angst vor dem Richter hatte, wer sich einschüchtern ließ, wer sein Recht schon aufgab – kann Morgenluft wittern. Sein Gegner ist erledigt.

Ich merke, wie die Geschichte gut tut. Ich sehe den Richter vor mir, ich höre die Witwe. Mir geht auf, was hier geschieht. Ich freue mich über den Erfolg, den sich die Frau erkämpft. Ich sehe Menschen vor mir, denen ich von der Witwe erzählen möchte, weil sie aufgegeben haben, um ihr Recht zu kämpfen. Aber mitten in meinen Gedanken dreht Lukas die Geschichte um. Er erzählt von Gott, der angegangen werden kann. Er macht Mut, beharrlich zu beten, dran zu bleiben, nicht klein beizugeben. Selbst bei Gott nicht – nein, gerade bei ihm nicht.

“Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen.” – Eine schwache, einfache Frau lädt geradezu ein, uns mit ihr zu identifizieren – um das Beten zu lernen. Mit einer Leidenschaft, die alle Rituale, alle Formen, alle frommen Worte über den Haufen schmeißt.

GEBETE, DIE GOTT DAS LEBEN ABTROTZEN

Ich habe ein Buch, das trägt die Überschrift: “Die schönsten Gebete”. Behaglich war mir bei diesem Titel noch nie. Was ist denn ein schönes Gebet? Ist es ein schön formuliertes? Ein gedanklich ausgereiftes? Ein ästhetisch ausgewogenes Gebet? Heute wird mir bewusst, das Beten mehr ist, als sich in eine feste Form zu begeben. Denn schließlich hat die Witwe nicht aus Spaß an der Freud’, wie es im Rheinland heißt, ihren Kampf mit dem Richter gewonnen. Sie hat um ihr Leben, um ihre Zukunft gekämpft. Irgendwann kam sie sogar zu dem Punkt, Höflichkeitsfloskeln lassen zu müssen. Sie hat gelernt, über ihren Schatten zu springen. Mit der Witwe vor Augen: Es gibt Gebete, die Gott das Leben abtrotzen.

Für eine formvollendete Anrede fehlen dann sogar die Worte. Alles muss heraus, aus dem Herzen, aus dem Kopf: Du musst mir helfen!

Ich habe auch ein Buch, das heißt: “Gebete aus der Tiefe”. Genau genommen: Es sind keine Gebete. Es sind Schreie, Selbstanklagen, Hilferufe, Verfluchungen, Segensbitten – eines Alkoholikers. Von alleine findet er nicht mehr heraus aus dem Loch, in das er sich begeben hat. Wie er sein Leben erfahren hat, was er einstecken musste, womit er nicht fertig wurde, was er in sich ertränkte. Wenn ihm einer helfen kann, dann “der”. Seinen Namen kennt er nicht, er weiß ihn nicht anzureden, nicht einmal die Frage, ob es ihn denn gibt, wagt er zu stellen. Es muss ihn geben: für mich. Heute wird mir bewusst, dass diese “Gebete” Gott nah sind. Er kam nicht mit Samthandschuhen zu den Menschen, er ließ sich mit Aussätzigen und Toten ein – er will auch nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Die Geschichte fängt an, spannend zu werden. Dabei hat Lukas doch nur ein Gleichnis erzählt: Das Gleichnis von dem unmöglichen Richter – und der unmöglichen Witwe. Kaum zu glauben, was sich hier anbahnt.

BETEN – BEHARRLICH, STÄNDIG, OHNE AUFZUGEBEN

Menschen erzählen, dass sie Gott als ungerechten Richter erleben. Oft verstecken sie ihre Hilflosigkeit in der alten Frage, auf die kein Mensch eine Antwort hat: “Warum”, “Warum ich”, “Warum die”. Sie fühlen sich um ihr Leben betrogen, vom Schicksal verfolgt und wissen nicht, warum.

Dass wir heute in diesem Gleichnis die Worte finden, mit denen Menschen über ihre Geschichte erzählen können – das ist ein Geschenk. Jeder könnte von dem Richter und der Witwe erzählen und seine eigene Biographie darin unterbringen, ohne sich outen oder ins Rampenlicht stellen zu müssen. Nicht drum herum reden, nicht fromm tun, nicht Gott in Schutz nehmen, sondern sich mit ihm anlegen, ihm die Bude einrennen, ihm hinterher laufen. Beharrlich, ständig, ohne aufzugeben.

Das ist in einem formvollendeten Gottesdienst eine ungewohnte Szene. Und Lukas freut sich. Denn dazu ist diese Geschichte erzählt: “In jener Zeit sagte Jesus ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten.” Sozusagen mit der höchsten Autorität: Gib nicht auf, von Gott das Leben zu erwarten, dein Leben, dein Recht.

UNSER MUT WÄCHST UND ANDEREN WIRD MUT GEMACHT

Im Evangelium ist der Witwe ein Denkmal gesetzt. Nicht aus Steinen. Mit Worten, die von Herzen kommen. Von ihrer Beharrlichkeit wird in der ganzen Welt erzählt.

Immer, wenn diese Geschichte vorgelesen, nacherzählt, vielleicht sogar gespielt wird. Der Nachsatz erscheint dann immer in einem besonderen Licht: “Und der Herr fügte hinzu: Bedenkt, was der ungerechte Richter sagt. Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen.”

Beharrlichkeit koste viel, sei aber unsicher – sagen Sie? Wäre die Witwe eine Zweiflerin – sie hätte aufgegeben, bevor sie angefangen hätte. Ich habe Angst, hätte sie gesagt. Der Richter hätte ein freches Grinsen auf dem Gesicht und alle würden sagen: Siehst du, ich habe immer schon gewusst, es ändert sich nichts.

Die Witwe wäre verhärmt gestorben – und wir wären um eine Hoffnung ärmer.

Es musste darum ein Gleichnis werden. Ein Gleichnis für das Gebet. Ja, das ganze Leben wird in diesem Gleichnis zu einem Gebet. Nichts ist zu gering, um Gott anvertraut zu werden, nichts zu schwierig, um ihn zu fordern. Die täglichen Gedanken, die kleinen Sorgen, selbst das böse Wort – sie sind ein Gebet. Die Einladung, sich beharrlich auf Gott zu werfen, hat eine Verheißung: Wir werden an dem Mut wachsen – und anderen Menschen Mut machen.

Darf ich am Schluss die Geschichte noch weiterdenken? Die Witwe erinnert sich.

Das Gesicht des Richters hat über die Jahre die Konturen verloren. Lachen musste sie, wenn sie daran dachte, wie sie ihm auf den Leib gerückt war. Wie er am Ende nicht einmal seine Abneigung – und seine rollenden Augen verbarg. Gar nicht meine Art, sagte sie, ich war ein eingeschüchterter Mensch. Aber ich musste um mein Recht, um mein Leben kämpfen. Alle haben das mitbekommen. Er sprach am Stammtisch, wenn die Honoratioren zusammen saßen, nur von der Hexe – und ich nannte ihn in der Nachbarschaft einen gottlosen Lump. Wir haben uns beide nichts geschenkt. Aber seitdem hatte der Richter seine Macht verloren.

Andere Menschen haben Mut bekommen, aus ihren Löchern zu kriechen. Einer musste doch den Anfang machen. Sagte sie. Und lächelte dabei in sich hinein.

Ich merke, wie die Geschichte gut tut. Ich verstecke mich hinter dem Rücken der Witwe. Der Richter wird klein mit Hut. Das freut mich.

Seneschall Matthias David