(Predigtgedanken zum 31. So. i. Jahreskreis / 25. So. n. Trinitatis; Mk 12:28b-34, Dtn 6:2-6, Hebr 7:23-28)
Gott liebt alle Menschen. Es ist aber ein Unterschied, wie Menschen drauf reagieren. Erst wenn wir seine Liebe mit Gegenliebe beantworten, kann sich die Liebesbeziehung zu Gott entfalten.
SIND NICHT ALLE MENSCHEN GOTTES GELIEBTE KINDER?
Vor einiger Zeit habe ich gute Freunde mit meiner Sichtweise der Taufe vor den Kopf gestoßen. Ich betonte dabei, es gehe nicht in erster Linie um eine „Aufnahme in die Kirche“, sondern stellte in den Vordergrund, dass wir in der Taufe Kinder Gottes werden. In Erinnerung an die Taufe Jesu, bei der eine Stimme aus dem Himmel bezeugte: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ (Mk 1,11) und an den Johannesprolog, in dem es heißt: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1,12). Meine Freunde erklärten sich mit meiner Sichtweise nicht einverstanden, denn einige ihrer Enkelkinder wurden mit unterschiedlichen Begründungen der Eltern nicht getauft. Sie fragten mich nun: Sind diese Kinder nun von Gott weniger geliebt? Liebt Gott nicht alle Menschen gleich? Müssen wir Christen uns nicht von dem Gedanken verabschieden, dass wir durch die Taufe irgendwie vor Gott privilegiert sind? Ist eine solche Vorstellung nicht eine arrogante Anmaßung gegenüber Menschen anderer Religionen? Worin liegt der Unterschied?
Ich weiß nicht mehr, wie ich damals meinen Freunden gegenüber argumentiert habe. Beim Lesen des Sonntagsevangeliums fiel mir unser damaliges Gespräch wieder ein. Auch ich bin überzeugt, dass Gott alle Menschen und alle seine Geschöpfe gleichermaßen liebt. Aus Liebe hat er alle und alles erschaffen. Es besteht aber ein Unterschied darin, wie Menschen auf die Liebe Gottes antworten.
Wenn sich jemand in einen anderen Menschen verliebt, hängt es davon ab, wie diese Person darauf reagiert. Manch einer merkt es gar nicht, dass da jemand bis über beide Ohren in sie oder ihn verliebt ist. Andere sehen sich aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage, die wahrgenommene Zuneigung zu erwidern. Wieder andere gehen darauf ein und empfinden Gegenliebe… Wenn alles passt, kann daraus für beide die Liebe ihres Lebens werden.
ISRAELS GRUNDLEGENDES GLAUBENSBEKENNTNIS
Im Evangelium fragt ein Schriftgelehrter Jesus, was für ihn das wichtigste Gebot sei. Jesus verweist auf die jüdische Tradition, in der jedes Kind als Grundformel im Schlaf auswendig zu sagen lernte: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.“ (Dtn 6,4-9).
Jesus stellt sich selbst fest auf den Boden der jüdischen Glaubenstradition. Dem Schriftgelehrten bestätigt er: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ (Mk 12,34). Die Art und Weise wie die Schriftgelehrten, Pharisäer und viele strenggläubige Juden auf der einen Seite und Jesus mit seinen Anhängern auf der anderen Seite auf die Liebe Gottes geantwortet haben, war jedoch unterschiedlich. Für die weitere Geschichte war folgenreich, dass sich die religiöse Praxis beider Gruppen so sehr auseinander entwickelt hat, dass sie sich von Zeit zu Zeit in beschämender Weise gegenseitig bekämpften.
WER NÄCHSTENLIEBE ÜBT, IST NICHT FERN VOM REICH GOTTES
Es gibt heute viele Menschen, die sich nicht zum Christentum bekennen, jedoch auf dem Boden der jüdisch-christlichen Tradition stehen. Sie antworten auf ihre Weise auf das Geschenk des Lebens, auch wenn dahinter manche von ihnen nicht einen liebenden Schöpfergott zu sehen vermögen. Was wäre unsere gegenwärtige Welt ohne das Engagement so vieler, die sich für Gerechtigkeit, Frieden, Menschenrechte und Menschenwürde einsetzen. Viele von ihnen praktizieren die von Jesus und der jüdischen Tradition geforderte Nächstenliebe engagierter als viele Christen. Viele von ihnen gehören anderen Religionen an oder leben ohne Religionsbekenntnis. Wer Nächstenliebe übt, ist nicht fern vom Reich Gottes.
Trotzdem ist für mich der gegenwärtige Trend, Kinder nicht mehr religiös zu erziehen und nicht mehr taufen zu lassen, problematisch. Wer wird ihnen von der Liebe Gottes erzählen? Diese kann man nicht in Büchern nachlesen, nicht „googeln“. Dazu braucht es lebendige und lebensnahe Beispiele. Nicht selten ist die Entscheidung, die Kinder nicht taufen zu lassen, Ausdruck der eigenen Gleichgültigkeit gegenüber Gott.
SEHT, WIE GROSS DIE LIEBE IST, DIE DER VATER UNS GESCHENKT HAT
Gott „mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben“, ist die Grundlage des Gebotes der Nächstenliebe und der Selbstliebe. Gerade wenn es schwierig wird, sich selbst zu lieben, etwa wenn ich mir eines „unverzeihlichen Fehlers“ bewusst werde, kann ich mir selbst verzeihen, weil ich weiß, dass Gott mich liebt und seiner bei der Taufe gegebenen Zusage treu bleibt. Wenn es schwierig wird, den Nächsten zu lieben, etwa wenn dieser Nächste nicht meine Vorstellungen vom guten Nachbarn oder liebenswerten Zeitgenossen erfüllt, hilft mir das Wissen, dass Gott ihn liebt, wie er auch mich liebt. Wer sich dem Liebesgebot Jesu verpflichtet weiß, kann diese drei nicht trennen: Die Gottes-, die Nächsten- und die Selbstliebe, denn sie baut darauf auf, dass Gott uns zuerst geliebt hat. „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ (Joh 4,19) und „Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es.“ (Joh 3,1).
Seneshall Matthias David