(Predigtgedanken zum 23. So. i. Jahreskreis / 15. So. n. Trinitatis – Mk 7:31-37, Jes 35:4-7a, Jak 2:1-5)
Die Heilung eines Taubstummen hat im Taufritual Spuren hinterlassen. Dies zeigt, wie fundamental wichtig es ist, dass Menschen ihre sinnliche Wahrnehmung gebrauchen und sich ausdrücken können. Es fordert uns auf, dass wir unsere Stimme in der Kirche und in der Gesellschaft erheben.
LAUTSTARKE MINDERHEITEN, SCHWEIGENDE MEHRHEITEN
Wer sich in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen möchte, muss zusehen, dass er mit seinem Anliegen durchdringt und wahrgenommen wird. Wenn jemand eine breitere Öffentlichkeit erreichen will, muss er dafür sorgen, dass Medien auf ihn aufmerksam werden. Oft geschieht dies durch aufsehenerregende Aktionen; Tabubrüche sind ein beliebtes Mittel – aber was ist heute noch tabu? Und dann muss man dafür sorgen, dass die Geschichte noch einige Male zwischen den verschiedenen Medien hin und her gespielt wird… Vor allem Minderheiten haben es schwer, mit ihren Anliegen wahrgenommen zu werden. Aber einige haben es schon gut drauf, sich in der modernen Welt der Medien erfolgreich zu bewegen.
Gleichzeitig fühlt sich die oft „schweigende Mehrheit“, wie sie sich gerne selbst bezeichnet, nicht ernst genug genommen in ihrer Meinung. Sie fühlt sich von den lautstarken Minderheiten ausgebootet. Aber auch sie haben in den Medien selbsternannte „Anwälte“, die für sich beanspruchen, die schweigende Mehrheit zu vertreten.
DAS GESCHENK DES SPRECHENKÖNNENS
Das Evangelium erzählt heute von der Heilung eines Taubstummen; eines Menschen, dem die Fähigkeit des Hörens fehlt und der deshalb nie sprechen lernen konnte. Auf diese Weise war er gänzlich darauf angewiesen, dass andere seine Bedürfnisse wahrnehmen, richtig interpretieren und sich für ihn einsetzen. Dieser Mensch war infolge seiner Gehörlosigkeit völlig an den Rand gedrängt. Ohne Gehör hatte er auch keine Möglichkeit, die selbstverständlichsten Dinge zu erlernen, die jedes andere Kind spielend nebenbei mitbekam.
Die Erzählung beschreibt, was Jesus mit ihm machte: Er nahm ihn beiseite. Abseits von der Menge kommt es zu einer feinfühligen Begegnung. Jesus berührt seine Ohren mit den Fingern und seine Zunge mit Speichel. Die Aufforderung „Effata! – Öffne dich!“, öffnete seine Ohren und löste seine Zunge. Die Intimität dieser Begegnung deutet darauf hin, dass es bei dieser Heilung um mehr ging, als um die medizinische Beseitigung eines Defizits. In der Begegnung legte Jesus die Vertrauensbasis, die dem Taubstummen ermöglichte, sich auch seelisch zu öffnen.
DER EFFATA-RITUS DER TAUFE
Sonderbarer Weise hat das Berühren der Ohren sowie des Mundes und die Aufforderung „Effata! – Öffne dich!“ Eingang in den Taufritus gefunden. Das rituelle Öffnen der Ohren und des Mundes des Täuflings symbolisiert die Ermächtigung zur vollen Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben. Dem neu getauften Kind Gottes steht nun die Kommunikation mit dem Vater im Himmel und mit den neu gewonnenen Schwestern und Brüdern offen.
Ein feines Gehör lässt uns auch die Zwischentöne wahrnehmen und durch eine differenzierte Sprache können wir uns selbst ausdrücken. Beides sind Grundbedingungen von Kommunikation, Intimität und Communio, Gemeinschaft. Beides hat auch im kirchlichen Leben eine eminente Bedeutung. Manchmal kommt es vor, dass ein Kind bei der Taufe laut schreit. Gerne nehme ich das zum Anlass zu sagen: Ja, schrei nur und bringe zum Ausdruck, was dir nicht passt! Normalerweise sind wir Erwachsenen bemüht, Kinder zu beschwichtigen und zu beruhigen. Das hat zwar seine guten Seiten, kann aber auch dazu führen, dass ein Mensch verlernt laut zu sagen, was einem nicht passt.
EIN GESELLSCHAFTLICHER AUFTRAG
Wir brauchen gute Ohren, gute Augen, einen guten Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn, um die Welt um uns wahrnehmen zu können. Wir brauchen die Sprache, um uns verständlich machen und unsere Bedürfnisse und unsere Meinung ausdrücken zu können. Unsere Stimme ist gefragt. Nicht nur im Kirchenchor, auch im Gemeinderat und in der Zivilgesellschaft. Wenn wir sie nicht gebrauchen, wird das, was gesagt werden muss, im Gewirr der vielstimmigen Gesellschaft untergehen.
Unsere Stimme ist gefragt, wenn jemandem Unrecht geschieht und dieser sich nicht artikulieren kann.
Unsere Stimme ist gefragt, wenn Politiker & Medien versuchen auf Kosten Geächteter parteipolitisches Kleingeld zu machen.
Unsere Stimme ist gefragt, wenn Kirchenführer ihnen unliebsame Themen herunterspielen und kleinreden.
Sich Medienkompetenz anzueignen, ist meines Erachtens nicht nur ein Freifach für Menschen mit ausgefallenen Interessen. Ich sehe darin ein wichtiges kirchliches Bildungsziel, eine Konkretisierung des Effata-Ritus, den Ihr Täufer hoffentlich nicht unterschlagen hat.
Seneschall Matthias David