(Predigtgedanken zum Palmsonntag, Joh 12:12-16)
Die Spannung des Palmsonntages
Vielleicht ist uns das Brauchtum, sind uns die liturgischen Zeremonien des Palmsonntages schon allzu vertraut, als dass wir noch die Spannung wahrnehmen, welche diesen Sonntag prägt. Die Liturgie dieses Tages ist von einer großen Gegensätzlichkeit bestimmt. Zum einen feiern wir den festlichen Einzug Jesu in Jerusalem. Wir selber stellen uns in die Reihe jener, die Jesus durch die Tore Jerusalems begleiten. Wir begrüßen ihn mit Zweigen in den Händen. Wir singen “Hosanna”. Wir sind festlich, ja vielleicht sogar fröhlich gestimmt.
Soweit, so gut. Aber der eigentliche Gottesdienst des Palmsonntages ist dominiert von der Passionsgeschichte: ein Vorausblick auf die Geschehnisse am Gründonnerstag und Karfreitag. Jesus ist dort nicht mehr der vielfach gefeierte und begrüßte Messias, nein, er ist der Leidensmann, der leidende Gottesknecht: ein Mensch, der nicht mehr von den warmherzigen Empfindungen einer großen Menge getragen wird, sondern gegen den sich eine Woge der Gewalt, der Verachtung, des blinden Hasses erhebt.
“Hosanna!” – “Kreuzige ihn!”
Diese Spannung des Palmsonntags gilt es, bewusst zu bedenken, nachzuvollziehen, zu verinnerlichen. Wenn wir dies tun, werden wir uns nicht davor entziehen können, über Jesus nachzudenken, ihn mit den Augen unseres Herzens in den Blick zu nehmen, zu fragen: Wer war – oder besser – wer ist Jesus, dass innerhalb so kurzer Zeit so gegensätzliche Reaktionen ihm gegenüber entstehen konnten. Auf der einen Seite das große Willkommen, der sich im “Hosanna” ausdrückt, auf der anderen Seite die aufgepeitschte Stimmung der Volksmenge, die dem Pilatus entgegen schreit: “Kreuzige ihn!”
Wir wissen nicht, wer zu der einen und wer zu der anderen Menge gehört hat. Ob es auch Leute gab, die da und dort dabei waren? Wenn, dann muss es sich wohl eher um Mitläufer gehandelt haben, um solche, die wenig gefestigt waren in ihrem Charakter und sich rasch einmal da und einmal dort entflammen ließen, solche, die mit riefen, wurde eine Stimmungslage nur von einer entsprechend großen Anzahl von Menschen und entsprechend emotionalisiert vertreten. Sind solche Phänomene in unserer Gesellschaft, in unserer Zeit völlig unbekannt? Sind sie unserem eigenen Herzen völlig unbekannt?
Was schätze ich an Jesus?
Doch kehren wir zurück zur Frage: Wer war Jesus, was hat er vertreten und was verkörpert, dass er einerseits gefeiert und andererseits in den Tod gejagt wurde? Wir sollten diese Frage nicht allzu schnell beantworten. Vielleicht kann sie uns in aller Offenheit in die Karwoche hinein begleiten. Vielleicht können wir uns ganz persönlich fragen: Was schätze ich an Jesus? Was verkörpert er für mich? Welche seiner Worte, welche seiner Handlungen, welche seiner Wunder sind für mich bedeutsam, woran erinnere ich mich ganz spontan? Was klingt immer wieder in meinem Herzen an? Was sehe ich gerne und oft vor meinem geistigen Auge? Wir sollen solches Fragen nicht als müßig erachten. Wir dürfen an diesen Fragen auch nicht leichtfertig vorbeigehen oder sie uns bloß halbherzig stellen, um sie dann auch nur halbherzig zu beantworten. Als Christen sind wir auf das Allerengste mit Jesus verbunden, so verbunden wie mit keinem anderen Menschen sonst in dieser Welt. Seit der Taufe ist uns Jesus eine beständige Herausforderung. Wie jede andere Beziehung braucht auch die Beziehung zu Jesus – und gerade sie – ihre besondere Pflege und Sorge. Dazu ist jetzt in der Karwoche und dann zu Ostern eine bevorzugte Zeit angebrochen. Lassen wir sie nicht verstreichen!
Im Leiden zeigt Jesus Stärke
Wenn uns auch unser Fragen nach Jesus und die Suche nach Antworten mitunter auf sehr persönliche Wege führt (die freilich so individuell gar nicht sind, weil wir uns in der Kirche als Glaubensgemeinschaft befinden und uns der Heilige Geist in unserem Suchen und Finden miteinander verbindet) – der heutige Palmsonntag legt uns allen zusammen eine Antwort nahe auf die Frage: Wer ist Jesus und was können wir an ihm schätzen. Es sind jene berühmten Worte aus dem Philipperbrief des Apostels Paulus, die wir in der zweiten Lesung gehört haben.
“Christus Jesus war Gott gleich.” Er war und ist der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort, das uns der Vater zuspricht. Als solchem gilt ihm alle Huldigung und Ehre: “Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!” Aber der Gottessohn “hielt nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave … er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz”. In Liebe den Weg des Leidens bis hin zum gewaltsamen Tod zu gehen – das ist nicht schwach, das ist stark! Ja, die Göttlichkeit Jesu offenbart sich geradezu im freiwillig auf sich genommenen Leiden und Sterben. Noch einmal: das ist nicht schwach, das ist stark, das ist göttlich! Deswegen gilt Jesus gerade auch in den Stunden seines bitteren Leidens der Ruf: “Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!” Mögen wir gerade in den kommenden Tagen durch ihn Segen für unser Leben, für unsere Welt erfahren! Amen.
Seneschall Matthias David