GRENZEN ÜBERSCHREITEN

(Predigtgedanken zum 6. So. im Jkr. / Estomihi, Lev 13:1,2,43-46, Mk 1:40-45)

HILFE!

Ich höre einen Hilferuf. Oder war es ein Schrei? Hiiilfe! Hiiilfe! Eigentlich hätte sich der Mann nicht in die Gesellschaft von Menschen wagen dürfen. Wo ihm doch ein Leben außerhalb des Dorfes zugewiesen war. Als vom Aussatz Gezeichneter war er verbannt. Wenn es schon nicht zu vermeiden war, gelegentlich in die Nähe der Menschen zu kommen, dann immer mit einer Rassel in der Hand – und dem obligatorischen, weit zu hörenden Ruf: Aussätzig! Aussätzig! Wie das verletzte! Der Mann musste vor sich warnen, musste sich selbst ausschließen.
Wie oft ihm das schon so gegangen war – er weiß es nicht. Irgendwann hörte er auf zu zählen. Er zählte nicht mehr die Enttäuschungen – er zählte nicht mehr dazu.
So hätte dieses Leben auch zu Ende gehen können. . . es zählt nicht.

ALLEIN GELASSEN

Markus, der die Geschichte am Anfang seines Evangeliums erzählt, malt die Leidensgeschichte nicht aus. Was hätte er auch erzählen können? Eine Krankheitsgeschichte? Die Geschichte eines langsamen, unaufhaltsamen Verfalls? Die Geschichte von Vorwürfen, von Angst?
Die Menschen kannten die alte Weisung zum Schutz der Gesunden, Reinen und Ansehnlichen:

Ich zitiere aus dem Buch Levitikus:
“Wenn sich auf der Haut eines Menschen eine Schwellung, ein Ausschlag oder ein heller Fleck bildet, liegt Verdacht auf Hautaussatz vor. Man soll ihn zum Priester Aaron oder zu einem seiner Söhne, den Priestern, führen.
Der Priester soll ihn untersuchen. Stellt er eine Schwellung fest, die wie Aussatz aussieht, ab so ist der Mensch aussätzig; er ist unrein. Der Priester muss ihn für unrein erklären.
Der Aussätzige, der von diesem Übel betroffen ist, soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungepflegt lassen; er soll den Schnurrbart verhüllen und ausrufen: Unrein! Unrein!
Solange das Übel besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten.”

Wie Gesetze so sind! Sie formulieren Bedingungen, Tatbestände, sogar Regelungen. Objektiv, klar, eigentlich sich von selbst verstehend. Nur: der Mensch, der in die Maschinerie gerät, wird allein gelassen. Über ihn wird entschieden. Ab sofort ist er – kein Mensch mehr. Eingerissene Kleider! Ungepflegtes Haar! Verhülltes Gesicht!

MITLEID

Behutsam, geradezu zärtlich beschreibt Markus anderes: das Mitleid. Das Mitleid Jesu. Sein Mitleid gibt diesem Menschen das Gesicht wieder. Die Würde. Die Freiheit. Um das zu erzählen, genügt ein Satz – aber in ihm versteckt sich der Himmel: “Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein!”

Was in diesem einen Wort steckt! Berührung! Berührung ist Nähe, körperliche Nähe. Berührung hebt einen Menschen auf. Berührung überwindet Fremdheit und Angst. Berührung schenkt dieses wunderschöne Kribbeln – das Verliebte kennen.

REIN UND UNREIN

Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: diese Geschichte erzählt nicht nur davon, dass ein Mensch wieder zu den Lebenden gehört – diese Geschichte erzählt auch von der großen Macht, einem Menschen die Reinheit wieder zu geben, die ihm zukommt.

Von Jesus heißt es, bevor seine Begegnung mit dem Aussätzigen erzählt wird: Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die bösen Geister aus (Mk. 1,39).
Das ist das Programm, sein Programm. Die größte Kunst der bösen Geister ist, über Menschen einen Fluch zu verhängen – sagen wir: sie “unrein” zu nennen. Auszusondern. Nähe zu versagen. Jesus treibt die bösen Geister – aus. Seine Liebe macht “rein”, nicht “unrein” – schenkt Nähe, nicht Angst – holt in das Leben zurück, vertreibt es nicht. Das ist ein bemerkenswerter Blick – für alle, die sich an die bösen Geister gewöhnt haben. Mit unwiderstehlichen Argumenten.

Muss ich jetzt sagen, dass “rein” nicht heißt, seine Hände in Unschuld zu waschen? So viele haben das versucht, wurden aber immer nur schuldiger. Bis sie in ihrem Leben eingesperrt waren. Pilatus war einer von ihnen.

Das Geheimnis der Berührung ist, auch vor Schuld keine Angst zu haben, sich ihr zu stellen – und einen Menschen in die Hand, an die Hand zu nehmen. Reinheit hat viele Namen. Einer heißt “Vergebung”, ein anderer “Wahrheit”, ihr größter Name ist “Liebe”.

GRENZEN ÜBERSCHREITEN

Aber gehen wir noch einmal zu dem Mann zurück, der gegen alle Ordnung nicht mehr die Rassel schwingt, auch nicht schreit: Aussätzig! Aussätzig! – sondern voller Vertrauen von sich aus die gewohnten Grenzen überschreitet und zu Jesus geht. Hiiilfe! Hiiilfe!

Ein mutiger Hilferuf. Schließlich weiß er nicht, in welche Situation er jetzt gerät. Wird er abgewiesen? Gar verscheucht, beschimpft? Oder vielleicht doch angehört? Alles ist offen. Nur sein Vertrauen nicht. Die anderen Menschen sieht er nicht. Sie machen ihm auch keine Angst. Meine Bewunderung wächst für ihn.

Markus erzählt sogar, dass die Bitte Jesu um Stillschweigen von ihm ignoriert wird. Er drückt der Geschichte einen, seinen Stempel auf. Er zwingt Jesus in die Einsamkeit – während er redet, redet und noch mal redet. Ich würde ihn so gerne kennen lernen. Markus hat ihm ein Denkmal gesetzt: “Der Mann aber ging weg und erzählte bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die ganze Geschichte…”

Jetzt weiß ich nicht, was ich mehr bewundern soll: Jesu freimütige Art, einen Aussätzigen zu berühren – oder die Frechheit des von seinem Aussatz befreiten, in dieser Geschichte das letzte Wort zu haben.
Ich glaube: von dieser Geschichte muss ich mir zwei Scheiben abschneiden!
Am besten heute noch.
Amen.

Seneschall Matthias David