GOTT LÄSST UNS NICHT ALLEIN IM LEID
BEGEGNUNG MIT DEM LEID
Viele von Ihnen haben wahrscheinlich schon einmal einen schwer kranken Menschen im Krankenhaus besucht. Wie ist es Ihnen dabei ergangen? Haben Sie sich vielleicht vorher gefragt: „Was soll ich bloß sagen?“ oder sich gedacht: „Hoffentlich jammert der andere nicht zu viel, oder fängt gar zu weinen an? Dann weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.“
Wie geht es Ihnen bei einem Begräbnis. Mit welchem Gefühl gehen Sie zu den Trauerfamilien hin und wünschen ihnen Beileid? Können Sie in die traurigen Gesichter sehen, den Schmerz aushalten der sie anblickt, oder in solchen Situationen Worte des Trostes finden, die nicht bloß oberflächlich sind?
HILFLOSIGKEIT – OHNMACHT
Ich denke, wir alle fühlen uns oft sprachlos, hilflos und auch ohnmächtig angesichts leidender Menschen.
Als Seelsorger wurde ich einmal auf die Intensivstation gerufen. Am Telefon erhielt ich die Information, ein 27-jähriger Mann liege im Sterben. 2 Jahre zuvor habe der Mann eine Herztransplantation bekommen, alles sei bisher gut verlaufen. Aber nun versuche der Körper das fremde Herz abzustoßen, und trotz starker Medikamente wäre es nicht gelungen, die Abstoßungsreaktion zu stoppen. Es gäbe nun keine medizinische Hilfe mehr. Die Ehefrau sei bei ihm und völlig aufgelöst. Sie schreie und weine, und ließe sich von niemandem beruhigen.
Als ich auf die Station kam, da stellte mich die Krankenschwester vor. Und noch bevor ich ein Wort sagen konnte, da schrie mich die Frau an: „Wo ist denn da dein lieber Gott? Was hat mein Mann verbrochen, dass ich einen so herzensguten Ehemann und unser Kind seinen liebevollen Vater verliert! Das ist einfach nicht gerecht. Nein, das ist einfach nicht gerecht!“
Ich konnte ihr in diesem Augenblick kein tröstendes Wort sagen, keine befreiende Antwort auf ihre Not geben. Ich schwieg. Erst nach einiger Zeit sagte ich zu ihr: „Sie haben recht, das Leben ist nicht gerecht.“
LEID IST NIE GERECHT
Es ist nicht gerecht, wenn ganze Dörfer durch Dürrekatastrophen verhungern. Es ist nicht gerecht, wenn Menschen durch Terror oder Krieg aus ihrer Heimat fliehen müssen und ihre Existenz bedroht ist. Es ist nicht gerecht, wenn Eltern ihr Kind bei der Geburt verlieren und erleben müssen, dass ihr Kind das Leben nicht entdecken konnte. Es ist nicht gerecht, wenn ein geliebter Mensch durch einen Unfall mitten aus dem Leben gerissen wird. Ja, es ist nicht gerecht, wenn ein Lebensabend nur mehr aus Schmerzen und Hilflosigkeit besteht.
DIE BEDRÄNGENDE FRAGE: „WARUM?“
Oft begegnen wir dieser „Ungerechtigkeit“ in unserer Umgebung und überall auf der Welt und wir werden von der Frage bedrängt: „Warum?“ „Warum lässt Gott das zu? Warum gerade ich? Warum trifft es diese Menschen, die doch niemandem etwas zu leide getan haben? Warum passiert das alles, das hat doch keinen Sinn?“
Diese Frage „Warum?“ bedrängt uns, will eine Antwort haben, weil der Wunsch da ist, das Schreckliche irgendwie zu verstehen, das Unbegreifliche doch menschlich begreifbar und damit annehmbarer zu machen. Dieser Wunsch war zu allen Zeiten da.
SUCHEN NACH ANTWORTEN
Im Ringen um ein Verstehen haben sich im Laufe der Zeit die verschiedensten Erklärungsversuche der Menschen – auch aus dem Glauben heraus – ergeben. Antworten, die diesen Menschen hilfreich wurden, sowohl im Glauben als auch im Leben.
Es ist aber wichtig nicht zu übersehen, dass wir heute diese von anderen gefundenen Erklärungen nicht einfach auf unser eigenes Leben übertragen, nicht einfach übernehmen können.
Dennoch können sie eine Anregung, eine Hilfe sein, den eigenen, ganz persönlichen Zugang zum Umgang mit dem Leidvollen im eigenen Leben zu finden. Oder manchmal können sie die Kraft geben zum Annehmen eines unbegreifbaren Schicksalsschlages.
LEID ALS „STRAFE“ GOTTES?
Ein Erklärungsversuch, der uns in der Bibel an manchen Stellen begegnet, und der auch in vielen Menschen verankert ist, lautet: „Dein Leid ist eine Strafe Gottes“.
Die Krankheit oder der Schicksalsschlag wird als eine Strafe gesehen für ein Versagen oder ein gebrochenes Versprechen, für eine böse Tat oder ein moralisch sündhaftes Leben.
Als die Krankheit AIDS bekannt wurde, konnte man anfangs des Öfteren hören (auch von Vertretern der Kirche): Das ist eine Strafe Gottes für die Homosexualität.
Man merkte aber schnell, dass diese Erklärung zu kurz greift, als sich nicht nur Homosexuelle sondern auch Kinder durch Bluttransfusionen mit dieser Krankheit ansteckten. „Unschuldige“ Ärzte oder Krankenschwestern wurden bei Operationen oder Untersuchungen infiziert. Wofür wurden sie bestraft?
LEID ALS STRAFE
Es kann aber sein, dass ich selber etwas bei mir als Strafe empfinde, weil ich einen Zusammenhang zwischen meinen Taten und dem Leid entdecke.
Wenn ich mit dem Auto zu schnell unterwegs oder alkoholisiert war, und nun nach einem Unfall querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitze, dann kann ich sehr wohl das Gefühl haben, mein Leichtsinn wurde bestraft.
Ich denke wir spüren, es wäre nicht gerecht, nun mein Gefühl der Strafe Gott in die Schuhe zu schieben.
LEID ALS HINWEIS VON GOTT
Im Krankenhaus habe ich erlebt, dass Patienten sagten: „Ich glaube, Gott hat mir diesen Zusammenbruch, diesen Herzinfarkt oder dieses Magengeschwür geschickt, damit ich gezwungen bin, mich mit meinem bisherigen Leben auseinander zu setzen. Ich habe mir schon lange nicht mehr die Zeit genommen, meine Handlungen, meine Beziehungen anzuschauen. Alles andere war mir wichtiger. Jetzt aber habe ich viel Zeit bekommen und ich entdecke neu, wie sehr mich meine Frau liebt und wie großartig meine Kinder sind, welch gute Arbeitskollegen und Nachbarn ich habe, …“
In solchen Aussage wird zwar das Unglück, der Schicksalsschlag auch mit Gott in Zusammenhang gebracht, aber gleichzeitig ist das Gefühl des Betroffenen spürbar, es gibt einen wichtigen positiven Hintergrund, einen Sinn für dieses Geschehen. Gott will mir etwas für mich Wertvolles, Wichtiges sagen oder zeigen.
Eine solche Antwort kann jemand aber nur für sich selbst finden, kann nicht von außen gegeben werden nach dem Motto: „Du musst nur genau hinschauen, dann entdeckst du schon, welch guten Sinn Gott in dein Leid gepackt hat.“
DAS LEID „AUFOPFERN“
Eine andere Art und Weise, mit Leid umzugehen, ist die Aussage: „Ich muss mein Leid aufopfern.“ Oft wird diese Aussage mit einem Satz in einem Paulusbrief verbunden: „Was am Leiden Christi noch fehlt, das ergänze ich mit meinem Leiden.“
Ich muss gestehen, mit diesem Satz des Paulus tue ich mir schwer. Hat denn Jesus zu wenig gelitten für uns? Sind wir durch Jesu Leiden nur zur Hälfte oder Zweidrittel erlöst worden und den Rest müssen wir selber machen? Haben wir einen solch schwachen Sohn Gottes, dass wir mit unserem Leid mithelfen müssen für die Erlösung? Können und müssen wir uns also ein Stück selber erlösen?
Für mich bedeutet das Wort: „das Leid aufzuopfern“, ich darf nicht nur die schönen und die guten Erfahrungen des Lebens als meine Gaben zum Altar bringen, als Opfer vor Gott, sondern ich darf auch mit dem Schweren, mit dem was mich nieder drückt, mit meinen Schmerzen und meinem Kreuz zu Jesus, zu Gott kommen und dieses Leid als meine Gabe in seine offene Hand – in sein Kreuz – hineinlegen. Dabei kann ich die Gewissheit haben, Gott schickt mich nicht zurück oder wendet sich von mir ab. Er wird auch mein Leid verwandeln. Ein Hoffnungszeichen im Leid ist deshalb für viele Menschen das Kreuz.
DEM LEIDENDEN MENSCHEN BEGEGNEN
Für mich gibt es das wunderbare Bild der Veronika mit dem Schweißtuch. Sie konnte Jesus nicht das Kreuz abnehmen, sie konnte nicht für ihn den Leidensweg übernehmen. Aber sie reichte ihm ihr Schweißtuch und verschaffte ihm dadurch Linderung und Trost. Jesus durfte erfahren: „Du bist nicht allein!“
Krankenhäuser, Pflegeheime, Rotes Kreuz, Entwicklungshilfe, Projekte gegen den Hunger, Nachbarschaftshilfe, ein offenes Ohr, ein stiller Händedruck … – all das sind für mich die Schweißtücher Veronikas der heutigen Zeit.
DA SEIN
Damals auf der Intensivstation konnte ich der jungen Frau keine Antwort geben, warum Gott diesen Weg für ihre Familie zulässt, warum er ihnen diese schwere Bürde auflegt, warum das Leben manchmal augenscheinlich so ungerecht ist. Ich konnte ihr nicht sagen, welcher Sinn in diesem schrecklichen Geschehen liegen könnte.
Was ich ihr aber geben konnte, war meine Anwesenheit, mein Zuhören, meine Solidarität in der Hilflosigkeit und die Gewissheit, ich lasse sie in dieser schwierigen Zeit nicht allein. In den zwei Tagen des Sterbens hat sie viele Gespräche geführt, mit den Angehörigen und Freunden, und auch mit mir. Nachdem ihr Mann gestorben war, sagte sie zu mir: „Gott wird mir und meinem Kind schon irgendwie weiter helfen!“
Schicksal, Leid, Tod – all dem gegenüber steht das Kreuz Jesu Christi mit der Botschaft Gottes: „Du bist nicht allein.“
Ordensgeistlicher Matthias David