Der Jahreswechsel beschert uns ein seltsames Gefühl. Die Zeit, die uns zwischen den Fingern zerrinnt ängstigt uns, konfrontiert uns mit der Vergänglichkeit. Mit der Geburt Christi ist Gott selbst in unsere Zeit hineingekommen und hat damit die Zeit geöffnet für die Ewigkeit. Das gibt Hoffnung und Gelassenheit.
ZEIT KOMMT UND VERGEHT
Einmal mehr sind wir am Ende eines Jahres angelangt. Es liegt immer eine eigentümliche Atmosphäre über solch einem Jahreswechsel. Das hat wohl damit zu tun, dass wir uns intensiver als sonst bewusst werden, dass wiederum eine Spanne Zeit unwiderruflich vergangen ist und dass wir Wünsche und Erwartungen haben an die kommende Zeit. Was aber ist das überhaupt, die Zeit, die da kommt und geht, die wir leben und die uns zwischen den Fingern zerrinnt?
Damit rühren wir an einen heiklen Punkt. Unsere Gesellschaft verdrängt die Frage nach der Zeit weitgehend und das hat unmittelbar damit zu tun, dass unsere Gesellschaft auch den Glauben an Gott und an ein Jenseits immer mehr von sich wegschiebt. Der Philosoph Hans Georg Gadamer hat kurz vor seinem Tod auf diesen heiklen Punkt hingewiesen, indem er sagte: „Die Anerkennung der Transzendenz – die Anerkennung eines Jenseits – ist eine der wichtigsten Herausforderungen für den Menschen“. Aber wie hängen Diesseits und Jenseits, wie hängen Zeit und Ewigkeit zusammen? Das möchte ich jetzt ganz kurz mit euch etwas bedenken.
Die Zeit gleicht einer Sanduhr. Stetig und unwiderruflich rinnt der Sand durch das Glas und wird dabei immer weniger. Stetig und unwiderruflich rinnt die Zeit dahin und wird ebenfalls immer weniger. Zwar erhoffen wir uns immer neue Zukunft. Aber in Wirklichkeit entschwindet sie uns mit jeder Sekunde, die wir leben. Von Sekunde zu Sekunde wird der Zeitvorrat knapper. Und am Ende steht der Tod. So gesehen ist die Zeit letztlich die Statthalterin des Todes.
DIE ZEIT, STATTHALTERIN DES TODES
Und das bestimmt das Leben unserer Jahre mehr als alles andere. Zwar versuchen wir mit allen Mitteln den Tod von uns fern zu halten, und so zu tun, als ob es ihn nicht gäbe. Und doch ist er überall gegenwärtig und macht er seinen Einfluss geltend. Zu Recht hatte der weise Buddha einst gesagt: „Mit der Geburt des Menschen beginnt sein Sterben“. Offensichtlich ist der Mensch das einzige Lebewesen, das weiß, dass er unweigerlich sterben muss. Damit weiß er, dass alles, was er in der Zeit lebt einmalig ist und dass einmal alles zu Ende gehen wird. Und dann? Ist mit dem Tod alles aus? Oder gibt es ein darüber hinaus?
Das ist nicht nur eine Frage nach dem Jenseits, sondern diese Frage entscheidet darüber, wie der Mensch hier im Diesseits lebt. Vor gut hundert Jahren betrug die Lebenserwartung in unserem Land so um die 45 Jahre. Aber in der damals noch vorwiegend christlich geprägten Gesellschaft glaubten die Menschen, dass nach dem Tod die Ewigkeit komme. Sie dachten also, ihr Leben würde in ca. 45 plus unendlich bestehen. Heute konnte die durchschnittliche Lebenserwartung an die 80 Jahre und darüber hinaus hochgeschraubt werden. Die heute vorwiegend säkularisierte und gottlose Gesellschaft in unserem Land denkt, sofern sie konsequent ist, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Sie denkt also, das Leben bestehe in mehr oder weniger 80 plus/minus Null.
Damit wird aber die Zeit wirklich und unerbittlich zur Statthalterin des Todes und zu einer Art von Fluch. Wenn mit dem Tod alles aus ist, steht die Zeit unter dem Vorzeichen der Beraubung. Jede Sekunde beraubt den Menschen um ein Stück seines Lebens. Jeder gegenwärtige Augenblick, der Vergangenheit wird, ist unwiderruflich entschwunden und immer mehr schrumpft das zusammen, was wir Zukunft nennen. Je länger das Leben voranschreitet, desto weniger verheißt es. „Zu wenig“: damit kann ein Grundgefühl unserer Zeit und Gesellschaft benannt werden. Wo es nur die Zeit gibt von der Geburt bis zum Tod und dann nichts mehr, dort wird der Mensch dauernd von der Angst umgetrieben, er könne das Wichtigste und Beste verpassen, weil ja alles zerrinnt, weil alles weniger und immer weniger wird.
DIE ZEIT LÄUFT DAVON
Die so davonlaufende Zeit muss dann durch Intensität und Leidenschaft und Tempo wettgemacht werden. Ich muss möglichst schnell möglichst alles haben, alles genießen, alles verbrauchen. So könnte ein weiteres Grundgefühl unserer Zeit benannt werden. Und deshalb muss alles schnell und schneller gehen. Wer aber möglichst schnell möglichst alles haben und verleben will, liefert sich nicht nur der Hetze und der Oberflächlichkeit aus. Er muss auch feststellen, dass er hinter etwas her rennt, das er nie einholen kann. Es gäbe immer noch mehr zu erleben, noch mehr zu genießen, noch mehr zu erwerben. Aber die Zeit läuft davon. Die Angst, immer „zu wenig“ zu haben, „zu wenig“ zu leben, ist nicht abzuschütteln. Der Mensch ist zum „zu wenig“ verurteilt, wenn es kein Jenseits gibt, wenn mit dem Tod alles aus ist.
Von diesem „zu wenig“ kann nur die Hoffnung befreien, mit dem Tod sei eben nicht alles aus, sondern es gebe ein Jenseits, es gebe über diese Welt und diese Zeit hinaus etwas Anderes, Neues, Erfüllendes. Nur diese Hoffnung, die im christlichen Glauben grundgelegt ist, kann von der Angst befreien, wir würden in allem, was wir in der Zeit leben, zu kurz kommen. Die Hoffnung des Glaubens ermöglicht einen gelassenen Umgang mit der Zeit und mit den Jahren des Lebens. Sie eröffnet die Perspektive, dass nicht entscheidend ist, wie lange, sondern wie gut und wie erfüllt ich lebe. Der Glaube gründet sich auf die Zuversicht, dass in allem, was geschieht, auch trotz allem, was ich verfehlt und versäumt habe, jemand da ist, der Ja zu mir sagt und das nicht nur für eine begrenzte Zeit, sondern für alle Ewigkeit – und dieser Jemand ist Gott.
DER HERR ÜBER ALLE ZEITEN
Wir glauben, dass Gott die Zeit in seinen Händen hält und uns über alle Zeit hinaus wirklich Ewigkeit schenken will. Dieser Glaube ist nicht blind. Sondern er stützt sich auf das, was Gott uns in Jesus Christus gezeigt und geschenkt hat. Mit Jesus ist Gott selber, ist sozusagen die Kraft seiner Ewigkeit in die Zeit hinein gekommen. Mit Jesus hat Gott selber die Zeit angenommen in allem, was sie im Leben und im Tod mit sich bringt. Mit Jesus hat Gott die Zeit wirklich geöffnet auf Ewigkeit hin. Genau das haben wir an Weihnachten gefeiert.
Weil wir so darauf vertrauen dürfen, dass Gott die Zeit bestimmt und uns Menschen über die Zeit dieser Welt hinaus Leben in Fülle zusagt, darum müssen wir uns nicht ängstigen lassen vom Vergehen der Zeit, sondern wir dürfen voll Hoffnung und Zuversicht ins neue Jahr 2021 hineingehen, weil wir wissen: durch alle Jahre hindurch gehen wir dem entgegen, der Herr ist über alle Zeiten und der uns letztlich zu dem führen wird, was wir ewiges Leben nennen.
Ordensgeistlicher Matthias David